Der Lyriker Reiner Kunze sammelt Dokumente seiner Verfolgung und Bespitzelung durch die DDR. Damit das Unrecht nicht verklärt wird, gründete er eine Stiftung
CICERO / Salon / Februar 2015
Wir treffen uns an jenem Freitagmorgen, an dem Bodo Ramelow in Thüringen zum Ministerpräsidenten gewählt werden wird. Reiner Kunze hat schlecht geschlafen.
Die vergangenen Wochen hat der 81-jährige vor allem auf Autobahnen und Rednerbühnen zugebracht. Ein Zwischenstopp in Jena, in Leipzig, auf Rügen. Eingeladen wurde der Träger des Thüringer Verdienstordens, wer schließlich sprach, war der kritische und leise Mahner Kunze. Kein trotziger Drachenjäger, sondern einer, der den Drachen mit feiner Dichtung in die Knie zwingt.
Die Heimat des Dichters liegt seit mittlerweile 37 Jahren im kleinen Dorf Erlau nahe Passau am Ende einer Stichstraße steil am Hang. Neben dem Haus beginnt der Wald, im Tal schlängelt sich die Donau in Richtung Obernzell, noch hängt Nebel in der Luft. Reiner Kunze sitzt auf einem lindgrünen Samtsofa in seinem Wohnzimmer. Hinter ihm erstreckt sich die Bücherwand, an der Seite schweigt ein Klavier, die Füße versinken in weichem Teppichboden. „Grüner Tee?“ fragt seine Frau Elisabeth. „Ein dreifacher Cappuccino wäre mir heute lieber“, sagt Kunze und seufzt. Er ist ein zarter alter Mann, die Haare leuchten weiß, die Augen hinter der randlosen Brille mit dem feinen Goldgestell schimmern ernst und wachsam. Antwortet Kunze nach langen Pausen auf die Fragen, so spricht er leise und ein wenig heiser, manchmal flüstert er fast.
„einladung zu einer tasse jasmintee / treten sie ein / legen sie ihre traurigkeit ab. hier / dürfen sie schweigen.“ Reiner Kunze schrieb diese kargen, wortgewaltigen Zeilen im Jahr 1967: eine Hommage an das Schweigen und das Sich-nicht-Bekennen-müssen. Erst Jahrzehnte später erfuhr Kunze, dass diese seine Worte unzählige Wohnungstüren in der DDR zierten. Die Erlaubnis zu schweigen war eine Chiffre für die verbindende Sehnsucht nach individueller Gedankenfreiheit, der Jasmintee ein Symbol für die Privilegien im Westen. Nun prangt das Gedicht im Raum der Stille beim Brandenburger Tor, es wurde in unzählige Sprachen übersetzt und berührt seine Leser bis heute mit der stillen Kraft der Metapher, jenem „Nadelöhr, durch das alle Poesie der Welt hindurch muss“, wie Kunze meint. Ist das Macht, die seinen Worten innewohnt? Kunze stutzt, er schließt die Augen, faltet die Hände und schweigt lange, dann meint er vorsichtig: „Ich würde nicht von Macht, aber von Wirkung sprechen.“ In der DDR wurde dem Sprachkünstler diese Wirkungskraft zum Verhängnis. 1933 in Oelsnitz geboren, später erst als wissenschaftlicher Assistent an der Universität in Leipzig, dann als freier Schriftsteller tätig, erlebte Kunze die ganze Brutalität des Systems. Bespitzelt, bespuckt und nahe an den Selbstmord getrieben, wurde das Ehepaar Kunze 1977 schließlich ausgebürgert. „Ich empfinde keinen Hass“, sagt Kunze heute, nur zwei Dinge wolle er nicht: „Ich möchte nicht als Lügner hingestellt werden. Und ich möchte nie wieder von solchen Leuten regiert werden.“
In Kunzes Wohnzimmer klingelt das Telefon. Ein Bekannter ruft an, Bodo Ramelow wurde gewählt. Kunze hatte mit diesem Wahlausgang gerechnet und doch sucht er nun nach Worten. „Wissen Sie, diese Wahl ist sekundär, Thüringen wird das nicht schaden. Aber es wird über die viel wichtigeren Dinge nicht gesprochen.“ Über die sozialistische Fundierung von Sahra Wagenknecht zum Beispiel, der Kunze „ideologisches Schläfertum“ zuschreibt. Über Gregor Gysis „gefährliche Massenwirksamkeit“. Und über die laut Kunze kommunistische Zielausrichtung der Partei DIE LINKE, die sie zu „einer Art Kokon der Kommunistischen Plattform“ werden lässt. Die Wahl Ramelows ist für Kunze dabei nichts weniger als ein weiterer Schritt hin zum Parteiziel.
Erst fünf Jahre ist es her, da las Kunze beim Freien Deutschen Autorenverband in Berlin aus seinen „Wunderbaren Jahren“. Nach kurzer Zeit erhob sich eine Gruppe der Zuhörer im Saal und protestierte: Lüge sei das alles und Hetze. Es war nicht das erste Mal, dass Kunze eine derartige Verklärung jüngster Vergangenheit erleben musste. Die Zeugnisse der Wahrheit jedoch stehen in Kunzes Regalen, sie hängen an den Wänden und lagern im Keller. Kunstwerke und Briefwechsel, Stasiakten, Filmmitschnitte, Behördenverkehr. „Das sind alles Beweise“, sagt Kunze beschwörend, seine Stimme zittert leicht. „Diese Beweise – sie können helfen, Antikörper zu bilden gegen jede Art von Indoktrination“. Zur Immunisierung der nächsten Generationen hat Kunze mit seiner Frau 2006 die „Reiner und Elisabeth Kunze-Stiftung“ gegründet, eine Stiftung für die Zeit nach ihrem Tod. Reiner Kunze ist beseelt und besessen von der Dokumentation der Wahrheit. Er kommentiert und sichtet, gönnt sich keinen Urlaub mehr und ließ ein halbes Jahr Baustelle über sich ergehen, um das Haus für die zukünftige Verwendung als Museum umzubauen. „Wir haben so viel Lebensmaterial, das unwiderlegbar ist. Das möchten wir zeigen für die Zukunft“, sagt Kunze.
„fern kann er nicht mehr sein, der tod“, schrieb Reiner Kunze in einem Gedichtband anlässlich seines 80. Geburtstags. Ein großer Dichter hat sein Ende im Blick, sorgsam, ernst und verantwortungsbewusst. Kostet das nicht Überwindung, sich ständig mit der Zeit nach dem eigenen Tod zu befassen? Kunze, der auf Fragen meist erst einmal schweigt, lange nachhorcht und leise antwortet, lacht laut auf, zögert keine Sekunde und meint: „Nein, da sind wir souverän.“