Der griechische Dirigent und Dandy Teodor Currentzis erobert vom russischen Perm aus die Musikwelt. Mozart setzt er unter Starkstrom. Nun erhält er den Echo-Klassik-Preis
CICERO / Salon / Oktober 2014
Wäre Teodor Currentzis kein Romantiker, er wäre nicht hier. In dieser Stadt, in der noch Hammer und Sichel an den Hausmauern prangen. In der sich die Sonne in der vergilbten Verschalung tristesser Plattenbauten spiegelt. In der grobklotzige Sowjetkunst in den aschgrauen Himmel ragt und im Winter bei durchschnittlichen minus 15 Grad die Abgase in der Luft gefrieren. Bis 1991 war die russische Stadt Perm mit heute knapp einer Million Einwohnern eine verbotene Stadt für Ausländer, sie war Hochburg der Rüstungsindustrie und Heimat von Wjatscheslaw Michailowitsch Molotow. Heute ist sie die Kulturmetropole im Ural und ihre künstlerische Leuchtgestalt heißt Teodor Currentzis.
“Ich bin eine sehr romantische Person, ich bin kein Technokrat”, sagt der Musikdirektor des Permer Opern- und Ballettheaters, nippt am schwarzen Tee und dreht sinnierend den großen Ring an seinem Finger. Sein ganzes Büro atmet den Geist postromantischen Schwärmertums, schwere Samtvorhänge verdunkeln den Raum, auf den tiefroten Tapeten schlängeln sich die Blumenranken empor, die Chaiselongue verschwindet unter einem üppig orientalischen Überwurf. Currentzis selbst thront im edlen grauen Anzug auf einem ausladenden Sessel, er zupft das Einstecktuch zurecht, wirft die schulterlangen dunklen Haare zurück und lächelt mit abwartendem Adlerblick. Der 42-jährige Grieche ist ein Meister der Inszenierung und ein akribischer Gestalter der eigenen Ästhetik. Kein Foto, das ohne seine Zustimmung den Weg in den Druck findet, auf den freigegebenen Bildern inszeniert sich Currentzis als düster-erotische Mischung aus distanziertem Dandy und geheimnisvollem Magier mit einer Prise Graf Dracula obendrein.
In Athen geboren ging Teodor Currentzis 1994 zum Dirigierstudium bei Ilja Musin nach St. Petersburg – „von einem schwierigen Land in ein anderes“, wie Currentzis feststellt – und bis heute ist er Russland trotz zahlreicher Engagements und zunehmender Beliebtheit im westlichen Ausland treu geblieben. Er schätzt die russische Kultur, die Offenheit der Menschen und eine Mentalität, die für ihn im Gegensatz zum disziplingesteuerten westlichen System noch Raum für die „wirklich wichtigen Dinge des Lebens“ lässt: Die Poesie zum Beispiel, die innere Freiheit und, natürlich, die Liebe. Fast immer kommt sie ins Spiel, wenn Currentzis über Musik spricht, über die erotische Intimität klassischer Musik und seinen Anspruch an die orgiastische Intensität einer Aufführung. “Musik ist der Geist, der zwischen den Gegensätzen und der Vereinigung dieser entsteht. Dabei trägt sie ebenso die Kraft des Protests in sich wie den naiven Glauben daran, jeden Menschen lieben zu können”, sagt Currentzis und seufzt. Die spirituell angereicherte Sprache und die dramatische Pose liegen dem Künstler, stets schwankend zwischen lauernd fokussierter Ruhe und leidenschaftlich ausholendem Gestus. Schmal und hochgewachsen spurtet er durch die Gänge der Oper, pulsierend und spannungsgeladen auch seine Bewegungen auf der Bühne, er geht auf Tuchfühlung mit den Musikern, reißt sich erhitzt den Frack vom Leib, dirigiert laut singend und wie im Rausch.
“Als ich vier Jahre alt war, hat mir mein Vater ein altes griechisches Volkslied vorgesungen, das von Eltern erzählt, die ihre verlorenen Kinder suchen. Ich weinte die ganze Zeit”, erzählt Currentzis. In diesem Moment hat er verstanden, was Tragödie bedeutet und wie der Mensch in der Kunst stets nach Erlösung von ihr sucht. Über die Klaviertastatur gebeugt suchte er schon als Kind nach Dissonanzen und ihrer Auflösung in sinnstiftender Schönheit, und bis heute ist es diese zutiefst romantische Idee, die Currentzis leitet und mit der er internationale Spitzenmusiker dazu verführt, ihm an den Rande Sibiriens nachzufolgen. Nun umringen sie ihn musizierend auf der Bühne des Permer Opernhauses. Eine Schwurgemeinschaft, die sich der bedingungslosen Hingabe verschrieben hat. Tanzende Körper, die sich zur Musik bewegen. Junge Gesichter zwischen 20 und 30, aus deren Augen Besessenheit spricht. 2004 hat Currentzis das Ensemble MusicAeterna als damaliger Chefdirigent am Opernhaus in Nowosibirsk gegründet, er hat es 2011 nach Perm mitgenommen und mit ihm die Interpretationspraxis neu definiert. Akribisch und detailversessen lotet er die Stücke aus, experimentiert mit ungewöhnlicher Instrumentierung und setzt die Musik durchgehend unter Starkstrom. Mozart unter den Händen von Currentzis klingt wie Musik unter dem Brennglas: Hochenergetisch auf den Punkt gebracht, emotional extrem ausgeleuchtet und in flirrenden Farbschichtungen transparent durchdrungen. Nicht ohne Grund wird die „Hochzeit des Figaro“-Einspielung des Ensembles bei SONY nun mit dem ECHO-Klassik-Preis ausgezeichnet.
Und warum gerade Perm? “Wir könnten das Projekt MusicAeterna überall machen. Aber in Perm sind wir frei, wir können hier eine neue Architektur schaffen, hier gibt es noch keine Regeln”, so Teodor Currentzis. Hier kann er nach Gutdünken noch am Vorabend den Probenplan für den nächsten Tag umwerfen, hier spielen die Musiker immer im Stehen, hier folgen sie keinen gewerkschaftlich erfochtenen Pausenzwängen, sondern proben im Spieleifer auch schon mal 14 Stunden. Mit jedem einzelnen Musiker von MusicAeterna verbindet Currentzis eine persönliche Beziehung, in den Proben reden sie über Gefühle, nicht über Dynamik. „Darum geht es in unserer Musik. Um Persönlichkeit. Und um Liebe.” Man hat es fast geahnt. “Kunst ist wie eine Blume inmitten von Ruinen”, sagt Currentzis. “Je grösser die Ruinen, desto strahlender blüht die Kunst.” In Perm hat Teodor Currentzis seine blaue Blume gefunden.