Arvo Pärt im Porträt
Fono Forum / September 2015
Das Geheimnis eines Wunders liegt in jenem unerklärlichen Prozentsatz, der bestehen bleibt – auch dann, wenn alle Analysen erschöpft, alle Zusammenhänge studiert und alle Töne gespielt worden sind. Es scheint nicht zu hoch gegriffen, bei der Aura der Musik des Komponisten Arvo Pärt von einem solchen Wunder zu sprechen und es ist ein Wunder, das ebenso zauber- wie rätselhaft nun schon seit etlichen Jahrzehnten eine weltweit einzigartige Fangemeinde berauscht. Sucht die „neue Musik“ ansonsten zumeist mühevoll ihre Hörer, so gilt Pärt als einer der beliebtesten und meistgespielten zeitgenössischen Komponisten und genießt damit per se einen gleichermaßen bewunderten wie skeptisch beäugten Sonderstatus unter Kollegen und Kritikern.
Blickt man auf das Leben von Arvo Pärt, so erzählt es die Geschichte eines Suchenden, der schließlich fündig wurde und seine Erkenntnis mit nahezu manischer Konsequenz in Musik übersetzt hat. Am 11. September 1935 im estnischen Paide geboren, begann Pärt schon als Kind zu komponieren, später studierte er in Tallinn Komposition bei Veljo Tormis und Heino Eller. Als frischer Universitätsabsolvent wurde Arvo Pärt bald zu einem der radikalsten Vertreter der sowjetischen Avantgarde. Anfangs noch deutlich von Béla Bartók, Sergej Prokofjew und Dimitri Schostakowitsch beeinflusst, suchte er alsbald die extreme Ausreizung der klassischen Tonsysteme. Er arbeitete mit der Zwölftontechnik und spielte mit seriellen Formen der Gestaltung, wobei er sich kurzzeitig der sogenannten „Collage-Technik“ zuwandte, bei der er klangliches Material aus den Werken anderer Komponisten verwendete, um daraus neue Klanggemälde zu kreieren. Alleine: Der Suchende fand keine Erfüllung, er strauchelte, zweifelte und zog sich 1968 zurück. Ganze acht Jahre dauerte die Phase der inneren Einkehr und als Pärt 1976 mit dem Klavierstück „Für Alina“ wieder an die Öffentlichkeit trat, hatte er einen Stil entwickelt, dem er fortan treu bleiben sollte. Sein Name: „Tintinnabuli“, angelehnt an das glockengleiche Klingeln eines der ursprünglichsten musikalischen Muster, des Dreiklangs. Während seiner schöpferischen Krise hatte sich Pärt intensiv mit der Gregorianik befasst, er hatte die Vokalpolyphonie der Renaissance für sich entdeckt und die Schule von Notre Dame. Als künstlerisches Ergebnis dieser Auseinandersetzung präsentierte der ehemals Radikale seiner Hörerschaft nun die tonale Umsetzung sinnlicher Askese. „Ich habe entdeckt, dass es genügt, wenn ein einziger Ton schön gespielt wird. Dieser Ton, die Stille oder das Schweigen beruhigen mich. Ich arbeite mit wenig Material, mit einer Stimme, mit zwei Stimmen. Ich baue aus primitivem Stoff, aus einem Dreiklang, einer bestimmten Tonqualität. Die drei Klänge eines Dreiklangs wirken glockenähnlich. So habe ich es Tintinnabuli genannt.“ Mit diesen Worten beschrieb der Komponist selbst seine Musik – seltene Worte eines Mannes, dessen Wesen seiner Kunst zu gleichen scheint: In sich gekehrt, konzentriert und bedächtig, von karger, unausweichlicher Präsenz geprägt, präzise im Ausdruck und bedingungslos in seiner Hingabe an die ganzheitliche Ästhetik. Mit seinem Tintinnabuli-Stil hat Pärt die Musik gleichsam auf Diät gesetzt und sich durch die Reduktion auf wenige Töne und Stimmen strikte Regularien vorgegeben, innerhalb derer er nach dem größtmöglichen Wirkungsraum strebt.
„Vieles und Vielseitiges verwirrt mich nur, und ich muss nach dem Einen suchen. Was ist das, das Eine, und wie finde ich den Zugang zu ihm?“ Diese Fragen begleiten Pärt bei seinen Kompositionen. Dem Erlebnis seiner Musik wohnt eine dementsprechend archaische Grundstimmung inne, die die Würde einer jeden einzelnen Note unterstreicht und in der die Stille, das Schweigen und der schlichte, tragende Ton eine immense Bedeutung erhalten. Die Grenzen zu einem religiösen Bekenntnis sind dabei fließend und es verwundert kaum, dass sich Pärt, der Anfang der 70er Jahre der russisch-orthodoxen Kirche beitrat, in seinen Werken vorwiegend religiösen Themen zuwendet. Dabei erfordert die Rezeption seiner Musik weniger die Übereinstimmung mit Glaubensinhalten als eine grundsätzliche Offenheit für die spirituelle Dimension des direkt empfundenen Klangs. In ihrem oft meditativen Grundcharakter, den gleichmäßigen Wiederholungen und den eindringlich geführten Stimmmotiven ähnelt Pärts Tonsprache einer musikalischen Kontemplation, die in ihrer konzentrierten Intensität nahezu jedermann zugänglich ist. So fügt sich Pärts Beliebtheit wunderbar ein in eine allgemein zu beobachtende Sehnsucht nach sinnlicher Erfahrung und einer Art des Erlebens, die keine Erklärungen braucht, ja sich vielmehr über ihr direktes So-Sein definiert.
Doch auch wenn Arvo Pärt von manch musikalischem Jünger zum Guru stilisiert wird – er selbst bedient diese Aura nicht. Freilich: Alleine seine Optik befeuert mystisch munkelnde Spekulationen und es findet sich kaum eine Analyse seines Schaffens, die ohne die Beschreibung des mönchshaften Kauz‘ auskommt – dieser verwunschene kleine Mann mit Rauschebart, Glatze und tiefgründigem Blick, der am liebsten in seinem estnischen Landhaus sitzt, dem musikalischen Einsiedlertum huldigt und Interviews notorisch abwehrt. Als Mensch zieht sich Pärt so gewissermaßen in die von ihm erschaffene Klangwelt zurück, während seine Musik in ihrer existenziell wirkenden Poesie und ihrer ästhetischen Kraft Hörer über alle Genres hinweg in den Bann zieht.
Für manch einen ist Pärts Musik in ihrer schlichten Wirkungsmacht aber auch eine Provokation, die Vorwürfe der Banalität, der esoterischen Wellnessromantik und der zwar massentauglichen, aber umso eintönigeren Plakativität heraufbeschwört. Seine Musik spaltet die Hörerschaft – auch das ist ein Teil ihrer Aura. Womöglich sagt die mitunter heftige und emotionale Ablehnung von Pärts Stil mehr über die Hörerwartungen und Denksysteme der Kritiker aus als über Pärts Musik selbst. Dabei legt sie eine Sichtweise offen, der die unmittelbare Überwältigung durch schlicht gesetzten Wohlklang grundsätzlich ein wenig suspekt ist und bei der sich die Wertigkeit einer Komposition an ihrer intellektuellen Komplexität bemisst. Gleichwohl Pärts Musik alles andere als simpel ist, entzieht sie sich beiden Anspruchshaltungen – und das auch noch weitgehend kommentarlos. So verzichtet der schweigsame Komponist auf umfangreiche Werkerläuterungen und Intentionsanalysen und lässt seinen Klangkosmos stattdessen einfach wirken. Eine Brüskierung, so scheint’s.
Pärt selbst, der 1980 nach Österreich emigrierte und heute wechselnd in Berlin und in Estland lebt, rührt die Diskussion um seinen Zauber wenig. Er komponiert und verdichtet, er sinniert und schweigt. Meistens zumindest. In einem seiner seltenen Interviews hat Arvo Pärt der Sängerin Björk einmal gesagt: „In der Kunst ist alles möglich. Aber es ist nicht alles nötig, was getan wird“. Vielleicht erklärt ja dies das Geheimnis seiner Aura.
Im September wird der stille Provokateur und Meister 80 Jahre alt. Herzlichen Glückwunsch.