Die Komponistin Anna Thorvaldsdottir ist bei den New Yorker Philharmonikern ebenso gefragt wie auf deutschen Opernbühnen. Ihre Musik aber ist isländisch durch und durch
CICERO / Salon / September 2015
Den Klang ihrer Kindheit hat der Wind komponiert. Er ließ die Dachbalken singen und die Jalousien rasseln, er peitschte die Meereswogen zum accelerando und prallte mit ungebremster Dynamik gegen die Felswände aus erstarrter Lava. „Ständig den Wind im Gesicht zu haben und die Elemente derart direkt zu spüren – das hat etwas sehr Fundamentales an sich“, sagt Anna Thorvaldsdottir und schließt die Hände fest um die wärmende Teetasse vor sich auf dem Tisch. Auch in diesem Moment wehen eisige Böen über die isländische Insel und zwingen trotz passabler Temperatur von zehn Grad Celsius zum schnellen Kauf einer Wollmütze. Es ist Juli in Reykjavik, „die schönste Jahreszeit“ laut Thorvaldsdottir, bevor es wieder dunkel wird und wirklich kalt.
Die zarte kleine Frau mit dem mädchenhaften Gesicht und der leisen hohen Stimme ist eine der vielversprechendsten Komponistinnen der Gegenwart. Im Juni wurde sie zum „New York Philharmonic Kravis Emerging Composer“ ernannt, im August ist ihr neues Album „In the Light of Air“ erschienen und im September wird ihre Oper „UR_“ am Theater in Trier uraufgeführt. Längst ist die Künstlerin ihrer Heimat beruflich entwachsen; in ihren Kompositionen verarbeitet sie jedoch bis heute die Schwingungen und Klangbilder der Vulkaninsel südlich des nördlichen Polarkreises. 1977 kam Anna Thorvaldsdottir hier auf die Welt und die rau zerklüfteten Lavafelder, die Einsamkeit der kargen Natur und die Kräfte der Urgewalten haben nicht nur ihre Persönlichkeit, sondern auch ihre Musik geprägt. All ihre Werke, ganz gleich ob für Orchester, Soloinstrument oder Kammerensemble, eint ein Grundton archaischer Mystik. In komplexen Strukturen entwickelt, entfalten sie eine soghafte Wirkung, wobei sie exzessiv den tonalen Raum ausloten und im Spannungsfeld zwischen rhythmischer Dichte und plötzlichem Innehalten Momente großer atmosphärischer Intensität heraufbeschwören. Immer wieder dringen lyrische Melodielinien hervor und verleihen dem musikalischen Strom eine zärtliche Ästhetik. Die Natur selbst ist für die Schöpferin der sinnlichen Tonwelten kein romantischer Begriff: „Natürlich kann die Natur wunderschön sein, aber eben auch übermächtig, zerstörerisch, beängstigend… Was mich an ihr so fasziniert, sind die vollendeten Proportionen. Dieses Gefühl, Teil eines großen Ganzen zu sein und etwas zu spüren, das lange vor uns schon da war. Ich habe einen ungeheuren Respekt vor der Erde und ihren Elementen. Sie lassen uns erahnen, wie winzig klein wir sind.“ Hat dieses Gefühl eine religiöse Dimension für sie? Anna Thorvaldsdottir winkt ab. Vielmehr geht es ihr um die Art des menschlichen Seins in der Welt.
Zur zeitgenössischen Musik fand die Komponistin über das Cello. Ihr Lehrer gab ihr neben Stücken von Bach, Beethoven und Haydn auch neue Literatur zu spielen und Thorvaldsdottir verfiel der Avantgarde. „Ich war total fasziniert. All diese ungewohnten Klänge, all diese spannenden Strukturen, all diese Möglichkeiten…das war absolut befreiend für mich. Als ich diese Musik kennengelernt habe, habe ich begonnen, Musik völlig neu zu denken und zu hören. Mir wurde klar, dass es möglich und erlaubt ist, völlig andere Musik zu schreiben.“ Fortan wagte die Isländerin, die Lieder in ihrem Kopf in Töne zu fassen, sie verabschiedete sich vom geplanten Cello-Studium und studierte stattdessen Komposition, erst in Reykjavik, später in San Diego. „Ich war durstig danach, zu schreiben“, sagt Thorvaldsdottir, dann lacht sie auf und atmet schnell.
Die 38-jährige ist eine leise Perfektionistin, die die Ordnung ebenso braucht wie die Stille. Ihr Arbeitsplatz ist dementsprechend Sinnbild der konzentrierten Reduktion eines arbeitenden Geistes: eine großflächige Holzplatte, eine heruntergebrannte Kerze, drei angespitzte Bleistifte in einem Gummiring, ein Blatt Papier. Dies ist der Ort, an dem Thorvaldsdottir in sich nach dem musikalischen Ursprung forscht, jener kreativen Keimzelle, aus der heraus in Folge ein Werk erwächst. „Dreaming on Music“ nennt Thorvaldsdottir diesen bewusst herbeigeführten Prozess, den sie als eine Art Meditation beschreibt. „Ich setze mich dann hin, ich zentriere mich und versuche, die Musik zu finden.“ War das innere Lauschen erfolgreich und beginnen sich die Klänge und Melodien im Kopf zu einer Struktur zu formen, greift Thorvaldsdottir zum Stift und bannt die Musik in graphische Skizzen auf Papier. Fragil und akkurat zugleich verlaufen die schwarz gezeichneten Linien über die weißen Seiten, sie kulminieren in Kästchen und Kreisen, variieren in Dicke und Strichintensität und werden für die Komponistin zu Landschaften klingender Erinnerung. „Für mich ist das ein Weg, meine innere Musik festzuhalten, bevor ich sie später niederschreibe“, erklärt Thorvaldsdottir.
Auch die Oper „UR_“ ist auf diese Art entstanden. Als Projekt des Far North Network wird sie in verschiedenen Ländern aufgeführt und thematisiert in abstrakter Form das Suchen des Individuums nach dem inneren Zentrum, der Ursprünglichkeit, dem „UR_“. Ihr eigenes „UR_“ hat Anna Thorvaldsdottir längst gefunden: dort, wo der Wind den Klang komponiert.