Passauer Neue Presse, Feuilleton / 31. Oktober 2015
Diese Tage würde man sie manchmal gerne herbei wünschen: Eine quirlige Ladung Anarchie, die roten Haare in abstehende Zöpfe geflochten, eine Bärenkraft in den Muskeln, kein Blatt vor dem Mund und das Herz am rechten Fleck. Vor 70 Jahren erschien der erste Pippi Langstrumpf-Band in Schweden; seither hat die Figur des eigensinnigen wie herzlichen Mädchens die Wohn- und Kinderzimmer in aller Welt beseelt und die Vertreter eines angepassten Durchschnittsbürgertums eines Besseren belehrt. „Ich mach mir die Welt, wie sie mir gefällt“: Pippi, die Träumerin. Pippi, die Freiheitskämpferin. Pippi, die beste Freundin aller Zeiten.
Die Mutter dieser Kultfigur hat ihre Pippi zu einer Zeit geboren, in der alle Zeichen auf Katastrophe standen. Am Krankenbett ihrer Tochter Karin sitzend, den Beginn des zweiten Weltkriegs vor Augen und auf der Suche nach Stärke und Selbstvertrauen in der Phantasie, erschuf die damals 32-jährige Astrid Lindgren in liebevoll lakonischen Worten die kunterbunte Welt der Pippi Langstrumpf, die sie wenige Jahre später berühmt machen sollte.
Wer war diese Frau, die sich den offenen Blick des Kindes zu eigen machte und der Nachwelt eine wahre Schatztruhe an Kinder- und Jugendliteratur hinterlassen hat? Wo kamen sie her, die Geschichten über die mutige Pippi, die wilde Ronja Räubertochter, den trotzköpfigen Michel aus Lönneberga oder die liebenden Brüder Löwenherz?
Zwei Bücher sind jüngst erschienen, die Antworten auf diese Fragen erahnen lassen: „Astrid Lindgren. Ihr Leben“, eine ausführliche Biographie von Jens Andersen, sowie „Die Menschheit hat den Verstand verloren“, die Kriegstagebücher von Astrid Lindgren, die sie in den Jahren 1939 bis 1945 geschrieben hat und in denen sie sich als Frau zeigt, die weit über ihr eigenes Leben hinaus blickte. „Heute hat der Krieg begonnen, niemand wollte es glauben“, notiert Astrid Lindgren am 1. September 1939, unzählige Einträge werden in den nächsten Jahren folgen: akribisch eingeklebte und kommentierte Zeitungsartikel, die Dokumentation der Frontverläufe, dazwischen lose Alltagsbeobachtungen, pointiert beschriebene Szenarien ihres eigenen Familienlebens und immer wieder das verzweifelte Ringen um die Aufrechterhaltung der Menschlichkeit und des klaren Verstandes. Nur selten einmal gesteht sich Lindgren die Darstellung der eigenen Gefühlswelten, selbst als ihr Mann sie betrügt, findet die Verzweiflung darüber nur Platz in wenigen selbstkritischen Sätzen. Astrid Lindgren war eine Kämpferin, eine starke und reflektierte Persönlichkeit, die die Kraft und Wärme aus ihrer eigenen behüteten Kindheit schöpfte und in immerwährender Auseinandersetzung mit sich selbst auch schwierigste Phasen meisterte. Mit 18 als Volontärin schwanger vom Chefredakteur, nach einer anonymen Geburt lange Zeit von ihrem geliebten Sohn getrennt, später dann eine schwere Ehe mit einem Alkoholiker, der frühe Tod ihres Mannes, der Krebstod ihres Sohnes – Lindgrens eigenes Leben war weit entfernt von der Bullerbü-Idylle. Und doch spricht aus den Tagebüchern wie aus der Biographie eben jene Frau, die auch die Figur der Pippi gebar: Eine lebensbejahende, ehrliche und humorvolle Denkerin, die Millionen von jungen Leserinnen und Lesern voller Ernsthaftigkeit begegnete und ihnen von jenen Werten erzählte, die auch in ihrem eigenen Leben das tiefere Glück bestimmten.: die innere Freiheit und die Liebe.