Die armenische Pianistin Nareh Arghamanyan musste früh erwachsen werden. Heute ist Musik für sie Meditation und Medizin zugleich
CICERO / August 2017
Im Dezember 1988 bebte im Norden Armeniens rund um die Stadt Spitak minutenlang die Erde. Unzählige Häuser stürzten ein, ganze Stadtteile wurden verwüstet, mehr als 25.000 Menschen starben. Einen Monat später wurde im zwanzig Kilometer entfernten Wanadsor Nareh Arghamanyan geboren. Ein Säugling inmitten eines Meeres von Verzweiflung.
„In der Familie meines Vaters sind bei dem Erdbeben sieben Menschen ums Leben gekommen. Als ich kurz darauf auf die Welt kam, waren die Zeiten dunkel und in meiner Familie herrschte eine tiefe Traurigkeit“, erzählt die Pianistin in der Lobby eines Wiener Hotels und legt behutsam die Hände in den Schoß. Mit ihren 28 Jahren zählt die Musikerin mit den braunen langen Haaren und den markanten Gesichtszügen zur jungen Generation armenischer Künstler, die einem gebeutelten Land Hoffnung bringen und Perspektive. Aus ihren dunklen Augen und den Erzählungen ihres Lebens jedoch spricht die Reife und Melancholie einer Frau, die früh erwachsen werden musste.
Die Schatten ihrer Kindheit haben sie geprägt. Gleichzeitig haben sie sie in jenes Reich der Töne und Harmonien geführt, in dem sie sich bis heute am wohlsten fühlt. „Mit dem Klavier habe ich damals einen Weg gefunden, um intensiv Emotionen zu spüren und zu verbreiten. Die Musik hat mir viel mehr gegeben als die Menschen um mich herum“, sagt Arghamanyan. Dies erlebt sie bis heute so. Während man mit Menschen immer erst Schnittmengen suchen müsse, um sich zu verstehen, könne man sich in die Musik ganz einfach und direkt hineinbegeben, so die Künstlerin.
Schon als Kleinkind zog die Musik sie als emotionales Ventil in ihren Bann. Stundenlang lauschte sie einer Kassette ihrer Mutter mit einem Klassikpotpourri, mit drei Jahren entdeckte sie schließlich das Klavier für sich – allerdings nur, wenn ihr Vater nicht zu Hause war, denn seit dem Tod seiner Verwandten ertrug er keine schönen Klänge mehr. Die ersten Jahre hat Nareh Arghamanyan daher heimlich gespielt. Ihre Mutter brachte ihr die Noten bei und das Mädchen übte wie besessen. „Ich habe von Beginn an sehr hart trainiert und wollte immer noch eine Stufe besser werden“, sagt Arghamanyan. Mit fünf Jahren nahm sie schließlich am ersten von insgesamt 18 Klavierwettbewerben teil, mit sechs Jahren gab sie ihren ersten Soloklavierabend. Nun erfuhr auch ihr Vater von der Passion seiner Tochter und duldete sie widerwillig. Im den folgenden Jahren begann Arghamanyan intensiv Unterricht zu nehmen. Dreimal die Woche fuhr sie zu ihrem ersten Lehrer am staatlichen Tschaikowsky-Konservatorium in Eriwan, 2004 schließlich ging sie mit gerade einmal 15 Jahren als jüngste Studentin an die Universität für Musik und darstellende Kunst nach Wien. „Ich wollte nach Europa und die Kultur der klassischen Musik aufsaugen“, sagt Arghamanyan. Das tat sie und gewann vier Jahre später die Montreal International Music Competition.
Der Wettbewerbssieg war der Beginn ihrer internationalen Karriere. Statt in der Konkurrenz zu anderen sucht die ehrgeizige Interpretin die Herausforderung nun in dicht gestalteten Konzertprogrammen mit vorwiegend romantischem Repertoire. Erlebt man die Musikerin auf der Bühne, entdeckt man bis heute die Prägungen ihrer Kindheit in ihrem Spiel: Die technische Brillanz und Perfektion einer akribisch Übenden ebenso wie die kompromisslose Emotionalität und Hingabe eines Menschen, für den die Musik der verlässliche Quell seines Lebens ist.
Nareh Arghamanyans Lebensmittelpunkt liegt aktuell in Wien. Von dort aus bereist sie die internationalen Bühnen, arbeitet mit führenden Orchestern zusammen und ist seit September letzten Jahres Artist in Residence in der Queen Elisabeth Music Chapel in Brüssel. Ihre armenische Herkunft aber ist für die Pianistin bis heute ein Auftrag. „Ich habe ein Gefühl von Verantwortung für dieses Land“, sagt die Musikerin, die sich intensiv mit der Kultur und der Persönlichkeit ihrer Heimat beschäftigt hat. „Wir Armenier haben sehr viele Schmerzen durchlitten, viele Kriege durchgemacht, dann die Erfahrung des Genozids… Das hat unser Volk sehr geprägt und auch unseren Glauben. Es ist der Schmerz der Jahrhunderte, den ich bis heute sehr stark fühle“. Mit ihrem Spiel am Klavier hat sie für sich eine Rezeptur gefunden, um die Pein ihrer Vorfahren zu lindern. Es gebe viele Orte auf der Welt, an denen gerade sehr dunkle Zeiten herrschten, so Arghamanyan, und auch wenn Politik und Musik nur sehr schwer zu verbinden seien, wolle sie mit ihrem Spiel Frieden stiften und Licht bringen in die Düsternis.
Es verwundert nicht, dass die Musik für Arghamanyan daher „eine Art von Meditation“ darstellt, eine „spirituelle Praxis“ mit heilender Kraft. „Das ist letztlich das Ziel von Musik“, sagt die gläubige Christin bestimmt. „Beim Spielen geht es deshalb nicht nur darum, dass ich von der Musik berührt werde, sondern dass die Menschen, die mir zuhören, berührt und befreit werden“. Bei ihrem Vater, ihrem mittlerweile „größten Fan“, ist ihr das gelungen. Auch er hat Trost gefunden im Reich der Töne und Harmonien.
Dorothea Walchshäusl