Seit ihrem zwölften Lebensjahr ist Evelyn Glennie nahezu taub. Dennoch hört kaum jemand intensiver als die schottische Schlagzeugerin – mit ihrem gesamten Körper!
crescendo / Januar 2018
Absolute Stille gibt es nicht, davon ist Evelyn Glennie überzeugt. Die Welt ist für Glennie stattdessen ein Kosmos an Vibrationen, der wummert und raunt, zittert und bebt. Am liebsten wäre es der schottischen Schlagzeugerin, dieser Text würde ausschließlich ihre Musik behandeln: ihr meisterhaftes Spiel mit den Percussion-Instrumenten, das einem mit seiner schwirrenden Virtuosität den Atem raubt, oder jene magischen Momente, in denen die Marimba unter ihren wirbelnden Händen zu singen beginnt. Aber ein Artikel ausschließlich über ihre Musik wäre zu kurz gegriffen. Denn Evelyn Glennie ist seit ihrer Jugend weitgehend taub und ihre Biografie nicht nur die Geschichte einer herausragenden Musikerin, sondern auch eine faszinierende Studie darüber, was „Hören“ bedeutet.
Evelyn Glennie kam 1965 im Nordosten Schottlands, nahe Aberdeen auf die Welt und wuchs auf einem Bauernhof auf. Früh entdeckte sie die Welt der Töne und Harmonien für sich, spielte Mundharmonika, später Klavier und Klarinette. Mit zwölf Jahren lernte sie im Schulorchester zum ersten Mal Percussion-Instrumente kennen und war wie gebannt. „Ich fand das unglaublich interessant: die unterschiedlichen Instrumente, die Vielfalt. Als ich dann mit dem Unterricht begonnen habe, war schnell klar: Die Chemie zwischen mir und dem Instrument ist perfekt“, erzählt Evelyn Glennie.
Als die Schlagzeugerin das erste Mal mit Percussion in Kontakt kam, war ihr Hörsinn bereits stark beeinträchtigt. In den folgenden Jahren ging er immer mehr zurück. Anfangs stellte Evelyn Glennie die Musik immer lauter, um über ihre Hörgeräte noch möglichst viel von ihr zu erhaschen. Bis ihr Percussionlehrer sie eine völlig andere Wahrnehmung von Musik lehrte. Damals bat er Glennie, ihre Hörgeräte abzunehmen und die Hände auf die Wände des Unterrichtszimmers zu legen. Dann spielte er Pauke und Glennie sollte sich darauf konzentrieren, was sie fühlte. Nach und nach begann sie, die Musik an ihrem gesamten Körper zu empfinden – in den Beinen, dem Bauch, dem Nacken, vibrierend, pulsierend und unmittelbar. Für Evelyn Glennie war das ein Schlüsselmoment: „Ich habe mit einem Mal gemerkt: Ja, ich kann Klang wirklich spüren! Da habe ich verstanden, dass der wichtigste Teil des Klangs nicht der Anschlag ist, sondern die Resonanz.“ Schien die Musik zuvor mit zunehmender Taubheit immer weiter von ihr wegzurücken, hatte Glennie mit einem Mal einen neuen, direkten Zugang zu ihr entdeckt. Bald legte sie ihre Hörgeräte ab und konzentrierte sich ganz auf das spürende Hören. Als wäre jede Pore auf Empfang gestellt, schulte sie sich in der Wahrnehmung der Resonanz von Klängen. „Ich habe meinen Körper als riesiges Ohr entdeckt“, schildert Glennie. Nie zweifelte sie daran, Schlagzeugerin werden zu können. „Wenn ich nicht hören könnte, könnte ich keine Musikerin sein“, bemerkt Glennie schlicht. Mehr gibt es dazu aus ihrer Sicht nicht zu sagen.
Entsprechend vehement hat sich Glennie seit jeher gegen eine Vermarktung als taubes Wunderkind und bestaunenswerte Attraktion auf der Bühne gewehrt. Das beste Mittel gegen die Sensationsgier der Menge war und ist bis heute ihr Spiel: Direkt und spannungsvoll, ungemein energiegeladen und mit prickelnder Präzision erschafft Glennie an ihren Instrumenten ein farbenreiches Gesamtkunstwerk, das die Hörer sinnlich und rauschhaft in den Bann zieht. Erlebt man Glennie auf der Bühne, erübrigen sich alle Fragen und Zweifel und man begreift: Wer wirklich hören will, muss fühlen!
Evelyn Glennie hat hörbar ihren eigenen Platz im Kosmos der Vibrationen gefunden. Längst sind es nicht mehr nur ihre einzigartige Präsenz im Spiel und ihre fesselnde Ausdruckskraft, die die Musikwelt bereichern. Vielmehr inspiriert Glennie mit ihrer umfassenden Musikalität und Sinnlichkeit dazu, das eigene Verständnis von Musik zu überdenken und scheinbar selbstverständliche Wahrnehmungsmuster infrage zu stellen. Wie nehmen wir Melodien, Harmonien und Rhythmen wirklich wahr? Welche Rolle spielen unsere Ohren? Und ab welchem Moment sprechen wir eigentlich von Musik? „Wenn wir zum Beispiel nur die erste Note von Beethovens 5. Sinfonie spielen – ist das nun Musik oder ist das Klang? Es ist immerhin die erste Note von Beethovens 5. Sinfonie!“, gibt Evelyn Glennie zu bedenken und lacht. Für sie ist eine Unterscheidung irrelevant. Wirklich wichtig ist ihr das intensive, ganzheitliche Hören – jene menschliche Fähigkeit, die Musik erst möglich macht. Dabei geht es nicht nur um die Wahrnehmung von Tönen. „Die größte Herausforderung in unserem heutigen Leben ist es zuzuhören“, beobachtet Glennie. „Wir müssen einander zuhören lernen. Das heißt nicht zwingend, einem Klang zuzuhören, sondern präsent und achtsam zu sein und sich selbst und die anderen Menschen wirklich wahrzunehmen.“
Und was hat es dabei mit der Stille auf sich? „Stille ist ein Klang“, sagt Evelyn Glennie, „und ich denke, man kann sich ihm annähern. Dieser Klang kann nervös sein oder einsam, friedvoll oder dunkel, traurig oder glücklich. Stille ist eine fantastische Sache, die alle möglichen Emotionen in sich trägt. Sie ist ein wichtiger Klang, den wir alle respektieren sollten.“