Immer häufiger nimmt das Jugendamt Kinder in Obhut. Pflegefamilien werden dringend gesucht. Hier finden Kinder familiäre Strukturen und Kommunen zahlen weniger als für einen Pflegeheimplatz.
KOMMUNAL / Juni 2018
Bei Familie Scheuerer in Ruderting ist die Welt noch in Ordnung. An den Wänden hängen Familienfotos und bunte Kinderbilder, im Garten warten Trampolin und Sandkasten auf ihren Einsatz. Seit einer guten Woche lebt hier auch die kleine Alena (Name von der Redaktion geändert), ein lebhaftes, neugieriges Mädchen mit Pferdeschwanz und keckem Blick, das gerade auf den Schoß von Alexandra Scheuerer klettert und seiner Mama auf Zeit einen dicken Kuss auf die Wange drückt. „Alena ist sehr liebebedürftig“, wird Alexandra Scheuerer später mit einem Lächeln sagen. In dem gemütlichen Haus in Ruderting bekommt die Fünfjährige Liebe und Halt, hier erfährt sie sichere Strukturen und klare Regeln und hat darüber hinaus zwei große Schwestern und einen großen Bruder als Spielgefährten.
Familien wie die Scheuerers sind für Kommunen ein kostbares Gut. Als Pflegefamilien bieten sie Kindern, deren Eltern nicht für sie sorgen können, wollen oder dürfen, ein neues Zuhause und den Zusammenhalt einer Familie. „Pflegefamilien sind enorm wichtig für eine Kommune“, sagt Franz Prügl, der Leiter des Jugendamtes im Landkreis Passau. „Zum einen geht es darum, Kindern, die aus ihrer Herkunftsfamilie herausgenommen werden müssen, eine Familie zu vermitteln, in der sie pädagogisch begleitet werden und menschliche Wärme erfahren. Zum anderen spielen die Finanzen eine wichtige Rolle. Ein Platz im Heim kostet die Kommune schließlich 4-5mal so viel wie ein Platz in einer Pflegefamilie“, wobei die Pflegefamilie je nach Alter des Kindes monatlich einen bestimmten Pflegesatz erhält. So hat der Landkreis Passau im Jahr 2017 insgesamt rund 2,7 Millionen Euro für ca. 60 Heimkinder gezahlt, während er nur 1,6 Millionen Euro für 177 Pflegekinder ausgegeben hat.
Die Gründe für die Unterbringung eines Kindes außerhalb seiner Herkunftsfamilie sind vielfältig: Mal sind die leiblichen Eltern erkrankt, mal sehr jung und überfordert, mal spielen Drogen- und Alkoholmissbrauch eine Rolle, mal gibt es Hinweise auf eine akute Gefährdung des Kindeswohls. Nicht immer ist dann die Pflegefamilie die geeignetste Option, etwa dann, wenn das Kind extrem verhaltensauffällig und kaum mehr vermittelbar ist. In den meisten Fällen jedoch ist die Unterbringung in einer familiären Struktur die erste Wahl und je nach letztem Wohnort des Kindes ist dann das dortige Jugendamt zuständig.
Im Landkreis Passau ist Sozialpädagogin Johanna Meixner die Leiterin des Pflegekinderdienstes und zusammen mit ihren Kolleginnen zuständig für die Akquise und Betreuung der Pflegeeltern. Für sie ist klar: „Wir suchen keine geeigneten Kinder für die Bewerber, wir suchen für die Kinder geeignete Bewerber“. Um diese zu finden, gibt es ausführliche Infotage und Bewerbungsgespräche, zudem müssen interessierte Familien, die in Frage kommen, mehrtägige Fortbildungsseminare besuchen.
Erklärt sich eine eingetragene Pflegefamilie schließlich zur die Vollzeitpflege bereit, wird sie für die Pflegekinder oft für etliche Jahre zum Familienersatz. Auch wenn die leiblichen Eltern zumeist nach wie vor das Sorgerecht haben, übernehmen die Pflegeeltern die Regelung der Alltagsgeschäfte. Für wie lange, entscheidet sich oft erst im Laufe der Jahre – eine schwierige Situation. So sagt Franz Prügl: „Den Pflegeeltern muss immer bewusst sein: Das Kind ist nur auf Zeit bei ihnen – oder auch für immer“.
Alexandra Scheuerer würde diese Unsicherheit nur schwer ertragen. Deshalb war für sie die Bereitschaftspflege die beste Option, jene Pflegevariante, die als erstes greift, wenn ein Kind akut untergebracht werden muss. Wer sich zur Bereitschaftspflege bereit erklärt, lebt jederzeit auf Abruf. Nach dem Anruf vom Jugendamt wird das Kind meist nur wenige Stunden später vorbei gebracht; maximal 60 Tage dauert die Bereitschaftspflegezeit, mal sind es nur ein paar Tage, mal etliche Wochen. Im vergangenen Jahr hat Familie Scheuerer bereits acht fremde Kinder bei sich aufgenommen. Da war das Geschwisterpaar, bei dem der Vierjährige mit Selbstverständlichkeit seine zweijährige Schwester wickelte und fütterte und panisch zu zittern begann, als er einmal ein Glas Wasser umgeworfen hatte. Da war der Sechsjährige, der von Scheuerers zu Ostern eine Tüte mit Spielzeugautos geschenkt bekam und sich so sehr darüber freute, dass er sie abends mit unter die Bettdecke nahm. Da war das 10 Monate alte Baby, dessen Mutter während eines Drogenentzugs einfach verschwand und ihr Kind zurück ließ. Und da ist Alena, die von ihrer Mutter weggegeben wurde, weil deren neuer Freund nicht mit ihr klarkommt und die Alexandra Scheuerer bereits nach zwei Stunden mit „Mama“ angesprochen hat. So traurig die Vorgeschichten dieser Kinder auch sind: Bei Familie Scheuerer finden sie Trost und Wärme. „Ich wollte einfach helfen. Und wenn einen ein Kind dann umarmt und anstrahlt, dann ist das das schönste Geschenk überhaupt“, so Alexandra Scheuerer.
Neben Familie Scheuerer werden im Landkreis Passau im Moment rund 170 Pflegefamilien betreut. „Das ist ganz klar eine personelle Herausforderung“, so Franz Prügl und die Mitarbeiter des Jugendamts leisten hier eine extrem fordernde und anspruchsvolle Arbeit. „Es ist immer wieder eine sehr schwierige Gratwanderung: Wie lange lasse ich ein Kind in der Herkunftsfamilie und versuche, mit ambulanten Hilfen, die Situation zu verbessern, und wann ist es besser, das Kind aus der Familie heraus zu nehmen?“ Zudem müsse häufig ein großer Spagat zwischen der Herkunfts- und der Pflegefamilie geschafft werden, immer begleitet von der Gefahr, dass die Gesamtsituation zur Zerreißprobe für die Kinder wird. Das erlebt auch Johanna Meixner so: „Wenn lange nicht klar ist, wie es weitergeht, dann ist das für alle Beteiligten extrem belastend“. Dabei sei es enorm wichtig, dem Kind so früh wie möglich eine Langzeitperspektive zu geben, damit es Wurzeln schlagen könne.
Klar ist auch: Eine pädagogisch wertvolle und verantwortungsvolle Sorge um die Pflegekinder kann in einer Kommune nur gelingen, wenn alle relevanten Stellen intensiv zusammenarbeiten. So sind im Landkreis Passau die Wege kurz zwischen Jugendamt, Familiengericht und Erziehungsberatungsstelle und auch die Zusammenarbeit mit der Kinder- und Jugendpsychatrie und der Kinderklinik läuft laut Franz Prügl reibungslos.
Während Pflegefamilien in den Großstädten zumeist händeringend gesucht werden, stellt sich die Lage in ländlicheren Regionen zumeist noch entspannter dar. So auch im Landkreis Passau. Die Gründe hierfür sind vielfältig: Zum einen verfügen die Menschen auf dem Land tendenziell über mehr Platz. Zum anderen ist nach Erfahrung von Johanna Meixner und ihrer Kollegin Karin Witowski gerade in dörflichen Regionen ein starker sozialer Zusammenhalt spürbar und eine selbstverständliche Bereitschaft, ganz praktisch Hilfe zu leisten und sich umeinander zu kümmern. Diese Beobachtung bestätigt auch Carmen Thiele vom Bundesverband der Pflege- und Adoptivfamilien e.V. (PFAD). Thiele, die selbst Pflegemutter ist, arbeitet bereits seit 2006 für den Verband und nimmt durch die Rückmeldungen ihrer Klienten deutliche Unterschiede zwischen den Bundesländern und den einzelnen Kommunen wahr. Ihrer Erfahrung nach spielt die praktische und finanzielle Ausstattung der Jugendämter eine ebenso große Rolle wie die Haltung der Kommune. „Beides ist gleich wichtig“, so Thiele. Die größte Gefahr ist aus ihrer Sicht, dass die Vollzeitpflege in einer Pflegefamilie von den Kommunen mitunter hauptsächlich als Sparmaßnahme wahrgenommen und bei der Betreuung der Pflegefamilien gespart werde. Zudem heiße „viel Personal nicht automatisch hohe Qualität“. Entscheidend sei vielmehr, dass Fachkräfte entsprechend gut vorbereitet werden auf ihre Aufgabe.
Im Jugendamt des Landkreis Passau ist man sich der Bedeutung einer intensiven Betreuung der Familien überaus bewusst. „Man kann in Menschen nicht hineinschauen“, so Franz Prügl. „Umso wichtiger ist ein enger Kontakt und Austausch mit den Pflegefamilien.“ Durch die erfahrenen Mitarbeiter des Pflegekinderdienstes wird eine engmaschige und persönliche Begleitung der Familien gewährleistet, zudem gibt es seit September 2017 eine Rufbereitschaft rund um die Uhr für Notfälle. „Die Mitarbeiter kümmern sich sehr um uns. Egal, was ist und egal, wo es brennt: Wir können jederzeit jemanden erreichen“, sagt Alexandra Scheuerer und es sei gut zu merken, „dass man mit seinen Fragen nicht alleine gelassen wird“.
Mindestens ebenso wichtig wie die intensive Betreuung und Begleitung der Pflegefamilie durch das Jugendamt ist laut Johanna Meixner jene der Herkunftsfamilie. Das bestätigt auch Carmen Thiele: „Die gute und wertschätzende Zusammenarbeit mit der Herkunftsfamilie ist entscheidend und ein Meilenstein für eine gelingende Pflegeelternschaft. Wenn eine Kommune hier viel investiert, ist das die halbe Miete für eine gelingende Pflegeelternschaft“, so Thiele.
In diesem Jahr feiert der Pflegekinderdienst im Landkreis Passau sein 25-jähriges Bestehen und es hat sich viel getan in den vergangenen zweieinhalb Jahrzehnten. „Die Probleme in den Familien haben sich eindeutig verstärkt“, so Franz Prügl, und es gebe beispielsweise deutlich mehr Alleinerziehende als früher. Zudem seien viele Eltern mit der Schnelllebigkeit unserer Zeit und dem starken Medienkonsum ihrer Kinder überfordert. Auch der Anteil an psychisch kranken Eltern sei höher als früher. Parallel zur Problematik in den Familien ist aber auch das Betreuungsangebot gestiegen. So gibt es heute deutlich mehr ambulante Hilfen und wird viel versucht, bevor ein Kind tatsächlich aus seiner Herkunftsfamilie genommen werden muss. Dennoch steigt die Zahl der Pflegekinder – auch das eine Folge der intensiven Sozialarbeit an der Basis. „Mehr Helfer entdecken mehr Not“, sagt Karin Witowski schlicht und Kinder wie Alena bekommen dann eine neue Chance.
„Familie“, das bedeutet für Alexandra Scheuerer, „gemeinsam um den Tisch zu sitzen und zusammen zu essen, zu lachen und füreinander da zu sein“. In Ruderting darf Alena gerade erleben, wie sich Familie anfühlt.
Dorothea Walchshäusl