Der russische Pianist Grigory Sokolov führt das Publikum in Passau an emotionale Grenzen
PNP / Juli 2018
Womöglich erwächst der Zauber der Musik gar nicht so sehr aus den Tönen selbst, sondern aus jenem geheimnisvollen Raum dazwischen. Der russische Pianist Grigory Sokolov ist ein Meister darin, diese Beziehung zwischen den einzelnen Noten zu gestalten und das pure, reine Konzentrat der Musik mit kompromissloser Ernsthaftigkeit in seinem Spiel freizulegen. Am Sonntagabend war er im Rahmen der Europäischen Wochen in Passau zu Gast und verwandelte den ausverkauften großen Rathaussaal für fesselnde zweieinhalb Stunden in eine Pilgerstätte höchster Konzentration.
Ein Konzerterlebnis mit Grigory Sokolov entzieht sich den üblichen Maßstäben und ganz gleich, ob er Joseph Haydns Klaviersonaten Nr. 32 g-Moll op. 53/4, Nr. 47 h-Moll op. 14/6 und Nr. 49 cis-Moll op.30/2 spielt oder Franz Schuberts späte 4 Impromptus op. posth. 142 D935, hat seine Interpretation in jedem Moment etwas bezwingend Bekenntnishaftes an sich. Unbefangenes Musikantentum findet sich nur selten darin, vielmehr scheint das Gewicht eines jedes einzelnen Anschlags vollendet durchdacht und abgewogen und erklingen die verschiedenen Stücke des Abends in faszinierend verdichteter Form. Unter intensivem Einsatz des linken Pedals und mit extremer Präsenz in der Ausgestaltung der verschiedenen Klangschichtungen lässt Sokolov seine Hörer auch scheinbar bekannte Stücke ganz neu entdecken. Dann kommen im schwebenden pianissimo ungeahnte Strukturen an die Oberfläche, treten Motive ganz neu miteinander in Beziehung und entstehen klingende Landschaften von schmerzhafter Schönheit. Diese Kompromisslosigkeit fordert schonungslos heraus und geht an die emotionalen Grenzen. Wer sich darauf einlässt, wird überreich beschenkt und erlebt Musik unter dem Brennglas.
Als der Pianist in Passau mit Schubert endet, bricht Jubel aus im Rathaussaal. Wie es zu einem Sokolov-Abend dazugehört, beginnt nun der inoffiziell zweite Teil und folgen die sehnsüchtig erwarteten Zugaben, darunter das c-Moll-Prélude und das Regentropfen-Prélude von Chopin und das As-Dur-Impromptu von Schubert. Bis sich der Künstler schließlich ein letztes Mal verbeugt und sein Publikum in die Sommernacht entlässt: berührt, erfüllt und tief beseelt vom Zauber zwischen den Tönen.
Dorothea Walchshäusl