Der Dirigent Lionel Bringuier stammt aus Nizza und kehrte an die dortige Oper zurück. Weltweit tritt er auf, und immer braucht er das ganze laute Leben um sich herum
CICERO / Februar 2020
Lionel Bringuier mag das ungefilterte Rauschen des Alltags. Während andere Musiker jenseits der Bühne die Stille und die akustische Askese suchen, genießt Bringuier das laute Leben. Ein Vormittag Ende September in einem Café in der Altstadt von Nizza. Die Tische sind gut gefällt, aus dem Radio tönt Musik, hinter der Theke klappert das Geschirr. Mittendrin sitzt Lionel Bringuier, lächelt und nippt an seinem Espresso. „Ich brauche das um mich herum, die Leute, den Lärm“, sagt der Dirigent. Bringuier ist indes kein lauter Typ, sondern ein zugewandter und aufmerksamer Beobachter. Zum Dirigieren hat der 33-Jährige eher zufällig gefunden. Aufgewachsen in Nizza, war die dortige Oper schon früh sein „zweites Zuhause“. Mit fünf Jahren bekam er seinen ersten Cello-Unterricht und bald war ihm klar, dass er Musiker werden wollte. Mit 13 Jahren ging er ans Konservatorium nach Paris, parallel zum Cello-Studium begann er mit dem Dirigieren – es wurde sein Lebensinhalt. Doch auch wenn Bringuier mittlerweile ausschließlich vor dem Orchester steht, ist er in seinem Grundverständnis ein Kammermusiker geblieben. „Es ging mir nie darum, im Rampenlicht zu stehen“, sagt der Künstler. „Ich wollte immer schon einfach nur Musik mit anderen Menschen machen.“
Längst lebt er diesen Wunsch auf den großen Bühnen. Von 2006 bis 2013 war er Assistent von Esa-Pekka-Salonen bei der Los Angeles Philharmonic, von 2014 bis 2018 leitete Bringuier das Tonhalle-Orchester Zürich. Es blieb eine kurze Episode, sein Vertrag wurde nicht verlängert. „Das waren vier großartige Jahre mit einem fantastischen Ensemble und ich habe hier viel über die Klangbalance in einem Orchester gelernt“, sagt Bringuier nur. Das Kapitel ist abgeschlossen, der Fokus liegt auf der Zukunft. In der Saison 2019/20 ist er nun Artist in Residence an der Oper in Nizza und beschert seiner alten neuen Heimat verschiedene Konzerte mit renommierten Musikerkollegen wie Hélène Grimaud. Als freier Dirigent ist er gut gebucht und weltweit unterwegs, gastiert in Sydney, Tokyo, Barcelona oder Wien. Sein Leben gleicht so einem stetigen Ein- und Ausatmen. Meist sei er eine Woche auf Tour und eine Woche in seiner Heimat Nizza. „Das Wichtigste ist für mich die Balance“, sagt Bringuier. „Ich reise, seit ich 14 bin. Aber dazwischen finde ich immer wieder Ruhe und Heimat in Nizza. Die vielen Menschen hier, das Leben in dieser Stadt, das Meer, daraus ziehe ich meine Energie“.
Lionel Bringuier ist ein drahtiger, eher kleiner Mann mit federndem Schritt und neugierigem Blick. Um das Phänomen des Dirigierens zu durchdringen, hat Bringuier unzählige Kollegen bei der Arbeit studiert, wie er erzählt, und bis heute saugt er als unermüdlich Lernender jedes neue Detail auf. Das Leiten eines Klangkörpers erfordert für ihn eine „Mischung aus Charisma, Menschlichkeit, Technik und perfekter Kenntnis der Partitur“. Ein letztes Geheimnis aber bleibe, sagt Bringuier. Er selbst ist als Dirigent ein geerdeter Lotse mit Weitblick. Dabei liegen ihm insbesondere die komplexen, motorisch vertrackten Stücke, Werke wie Paul Dukas „Zauberlehrling“ oder Igor Strawinskys „Le Sacre du printemps“, in denen er die archaischen Grundzüge und die dynamischen Ausbrüche dramatisch ausgestaltet. Bringuier ist sehr konkret in seiner musikalischen Gestik. Theatralische Show ist ihm fremd, sezierende Detailversessenheit ebenfalls. Stattdessen fokussiert er sich auf die Schlüsselstellen und meißelt dann jede Nuance hervor. „Als Dirigent musst du spüren, wann das Orchester dich wirklich braucht“, sagt Bringuier. Dann zeigt er maximale Präsenz und übernimmt markant und impulsstark die Führung.
Wenn es um die schlüssige Interpretation eines Werkes geht, ist für den umtriebigen Künstler die wichtigste Frage jene nach dem „Warum“. „Es gibt immer einen Grund für das, was der Komponist notiert hat“, sagt Bringuier, und die akribische Analyse der Partitur stehe deshalb immer am Anfang. „Als Dirigent habe ich eine klare Idee, wenn ich ans Pult trete“, so Bringuier. Die Arbeit mit dem Orchester aber sei ein „lebendiger Prozess der Kommunikation“ und die Umstände seien immer anders, die Grundschwingung des Ensembles, die Probenzeit oder die Räumlichkeit. Entscheidend sei letztlich aber nur das Ergebnis. „Es gibt keine Entschuldigung. Was zählt, ist alleine die Aufführung“, sagt Bringuier, und die sei auch bei bekannten Werken immer wieder aufs Neue spannend. „Wir sind keine Maschinen. Das ist der Reiz“.
Die Stille sucht Lionel Bringuier in den Stunden und Minuten vor einem Konzert. Dann meditiert er, hält den Alltag fern und verinnerlicht die Partitur. Wenn er schließlich vor dem Orchester steht, schließt er noch einmal kurz die Augen. Bis er die Arme hebt und die Welt wieder beginnt zu klingen.
Dorothea Walchshäusl