Der isländische Pianist Vikingur Olafsson entdeckt in Johann Sebastian Bach einen Zeitgenossen
CICERO / Dezember 2018
Eine endgültige Antwort gibt es nicht, das ist die einzige Gewissheit „Wenn jemand meint, bei Bach eine Lösung gefunden zu haben, dann liegt er ziemlich sicher falsch“, sagt der isländische Pianist Víkingur Ólafsson. Stattdessen seien da einzig „ganz wunderbare Fragen, die man stellen kann“, immer wieder neu und immer wieder anders.
Ólafsson ist einer der interessantesten Fragensteller der jungen Pianistengeneration und wartet in diesem Jahr mit gleich zwei Bach-Alben auf, einmal einem Konzeptalbum mit verschiedenen Originalen und Transkriptionen, einmal einer Zusammenstellung von Reworks. Im Alter von 34 Jahren gibt er damit ein bemerkenswertes Statement ab und entbehrt doch jeglicher Hybris.
Johann Sebastian Bach ist für den großen schmalen Mann mit den dunkelblonden Haaren und der schwarz umrandeten Brille ein enger Lebensbegleiter. Immer wieder aufs Neue hat er sich mit seiner Musik „von höchstem Anspruch und größter Tiefe“ auseinandergesetzt, diesem „Universum des Klangs und der Kontrapunktik“. Seine ersten musikalischen Erfahrungen machte Ólafsson schon pränatal, damals war es Beethoven, nicht Bach, dem er lauschte. Seine Mutter, eine Pianistin, war mit ihm schwanger und übte die Appassionata. Víkingur Ólafsson beglückt diese Vorstellung bis heute – „in ihrem Bauch ganz nah bei den Tasten zu sein und Beethoven zu hören“. Später lebte die Familie in ihrer Wohnung in Reykjavik um einen Steinway-Flügel herum, der im Wohnzimmer thronte und Víkingur Ólafsson schon als Kleinkind magisch anzog. Er habe den Erzählungen seiner Familie nach nie laut gespielt, sondern immer ganz sanft die Tasten gedrückt, sagt Ólafsson, und als er später Unterricht bekam, habe er „nie geübt, sondern immer nur gespielt“. Erst während seines Studiums an der Juilliard School in New York habe er begonnen, systematisch zu trainieren und an seiner Technik zu feilen. Nach seinem Abschluss ging Ólafsson nach Oxford und beschäftigte sich dort einige Jahre exzessiv mit Bach. Der Meister der Kontrapunktik wurde schließlich sein wichtigster Lehrer. Ob in der Musik oder im Leben: Im Endeffekt gehe es immer um Proportionen, sagt Ólafsson, und die Beschäftigung mit Bach helfe dabei, die richtige Balance zu finden.
Víkingur Ólafsson ist ein blitzwacher und kritischer Geist, der simple Antworten scheut und die Herausforderungen sucht. Der umtriebige Musiker ist nicht nur als Pianist unterwegs, sondern konzipiert und leitet zudem auch verschiedene Festivals, darunter das Vinterfest in Schweden und das Midsummer Festival in Reykjavik. Sein erstes künstlerisches Ausrufezeichen setzte Ólafsson Anfang 2017. Damals brachte er sein Debutalbum mit den Klavieretüden von Philip Glass heraus und entlockte den oft als seichte Meditationsmusik belächelten Werken eine ungeahnte Tiefe und suggestive Wirkungskraft. Víkingur Ólafsson hat sich im Vorfeld der Aufnahme oft mit Glass getroffen und durch die Auseinandersetzung mit dem prominenten Vertreter der Minimal Music die falsche Scheu vor Komponisten verloren. Damals hat er erkannt: „Die Komponisten sind uns Interpreten so ähnlich in ihrem Suchen und Spielen mit der Musik. Das war eine total erfrischende Erkenntnis“. Auch für seine Bach-Interpretation ist diese von Bedeutung. „In dem Moment, in dem ich ein Stück spiele, ist es für mich zeitgenössische Musik. Das gilt auch für Bach“, so der Pianist.
Ein Album ist für Ólafsson nie nur Aufnahme, sondern immer auch Konzept. „Wie eine Komposition“ sollen die einzelnen Stücke letztlich ein neues Ganzes ergeben, „ein Mosaik mit innerer Ordnung“. Im Falle seines Bach-Albums sollte die Beziehung zwischen Original und Bearbeitung, zwischen Notentext und Interpretation im Fokus stehen. „Große Musik vereint die Emotion und den Intellekt“, ist Ólafsson überzeugt und wohl kaum ein Komponist bringt beide Seiten klangsinnlicher zusammen als Johann Sebastian Bach. Für Ólafsson ist Bach der Tonschöpfer, der seinem Herzen am allernächsten ist. „Bachs Musik lässt mich an die Menschheit und das Universum glauben. Sie verbindet einen mit der eigenen Seele.“ Spiele man die polyphonen Meisterwerke von Johann Sebastian Bach, sei man wie ein Puppenspieler, der die verschiedenen Charaktere führt und leitet. Bach derart auszugestalten, verlange vom Interpreten die Fähigkeit, im selben Moment Teil der Musik zu sein und wachsamer Beobachter. „Man sollte als Interpret immer schneller hören können, als man spielt“, sagt der smarte Isländer. „Fokussiert, aber nicht trocken“, „klar, aber nicht analytisch“ solle sein Bach daherkommen, „spielerisch und möglichst reich an Klangfarben“, auf gar keinen Fall sentimental, aber auch nicht zu kalkuliert. Ein immenser Anspruch. Auf seinen Alben wird Ólafsson ihm gerecht. Gleich einem akribischen Architekten harmonischer Klangräume gelingt Ólafsson in seinem Spiel die Balance zwischen Emotionalität im Moment und übergeordneter Struktur. Es ist ein Bach ohne Patina, Unterwürfigkeit und Dogmatismus, stattdessen sehr lebendig, manchmal provokant und wohltuend klar. Es ist eine von vielen möglichen Antworten. Niemand weiß das besser als Víkingur Ólafsson selbst.