BRIGITTE / Februar 2022
Die Zukunft ist goldbraun und feucht und liegt im Schnitt 40 Zentimeter unter unseren Füßen. Lehm heißt das Material, von dem Anna Heringer überzeugt ist, dass es das Bauen revolutionieren könnte – und außerdem das Klima retten und viele Menschen glücklicher machen. Doch von vorn.
Heringer, 45, wache Augen, herzliches Lachen, ist im oberbayerischen Städtchen Laufen aufgewachsen. Der Garten ihres Elternhauses lag auf einem früheren Friedhof – „die Vergänglichkeit war also allgegenwärtig, die Erdverbundenheit auch“, sagt sie. Als Pfadfinderin errichtete sie mit ihren Kameradinnen Hütten aus Holz und Erde. Erlebnisse, die sie sehr prägten, wie sie sagt. Nach dem Abitur ging sie als Entwicklungshelferin nach Bangladesch, dann nach Linz, um Architektur zu studieren.
Menschen dabei helfen, sich selbst zu helfen, und Häuser bauen – diese zwei Anliegen wollte sie verbinden. Doch die konventionelle Baupraxis, das merkte sie rasch, war dafür kaum geeignet. „Bauprojekte großer Investoren werden meist ohne Einbindung der Ressourcen vor Ort und entkoppelt von den Bedürfnissen der Menschen umgesetzt“, sagt sie. Als Material dient meist Beton, weil er gut formbar ist, vor Schall und Feuer schützt. Doch die CO2-Bilanz des Gemischs aus Zement, Sand und Wasser ist schlecht:
Drei Milliarden Tonnen CO2 gehen jährlich auf die Zement-Produktion zurück, das sind zehn Prozent des vom Menschen ausgestoßenen Treibhausgases. Zudem ist Beton nur schwer recycelbar.
Noch als Studentin suchte Heringer nach Alternativen. Ein Workshop des österreichischen Künstlers Martin Rauch stieß sie auf Lehm als Material. Das Verwitterungsprodukt aus Sand, Quarzmehl und Ton war für sie eine Offenbarung: „Als Baustoff ist Lehm perfekt, man muss ihm nichts hinzufügen. Ein Gratismaterial direkt aus der Erde, das nahezu überall vorkommt.“ Zudem sorge er – anders als Beton – für ein gesundes Raumklima, weil er die Luftfeuchtigkeit reguliere, Wärme speichere. Und: Man kann ihn problemlos wiederverwerten.
Seit der Industrialisierung ist Lehm trotzdem von den Baustellen fast verschwunden. Vor allem wegen der Kosten:
Für ein Lehmhaus braucht es viele, die unter professioneller Anleitung daran arbeiten. Genau darin sieht Heringer aber eine Chance: „Der Bau mit Lehm schafft Arbeitsplätze und stiftet Gemeinschaftsgefühl.“ Bewusst bindet sie daher bei ihren eigenen Entwürfen die Menschen vor Ort mit ein. Lässt Kirchengemeinden den neuen Altar stampfen oder geflüchtete Rohingya-Frauen die Probewände für ihre neuen Häuser formen.
Schon für ihr Diplomarbeitsprojekt, der METI Handmade School in Rudrapur in Bangladesh, einem licht- und luftdurchfluteten Bau aus Bambus, Stroh und Lehm, gewann sie 2007 den Aga Khan Award, den wichtigsten Architekturpreis in der islamischen Welt, viele weitere Auszeichnungen folgten. Mit den Preisgeldern finanzierte Heringer ihre nächsten Bauten. Etwa einen Kindergarten in Zimbabwe aus Lehm, Gras und Ziegenfellen oder ein Hostel aus Bambus und Lehm in China.
In Deutschland stehen ihr oft die Vorschriften und Regelungen ihrer Branche im Wege, die auf ganz andere Materialien ausgelegt sind als auf Lehm. Doch zunehmend baut sie auch hier, etwa den neuen Altar im Wormser Dom und, ganz aktuell, ein Lehmgebäude auf einem Campus bei Traunstein. Zudem lehrt sie an Hochschulen, etwa in Zürich oder Harvard, und hat den UNESCO-Lehrstuhl für „Lehmbau, Baukulturen und nachhaltige Entwicklung“ in Grenoble inne.
Von ihren Studierenden, aber auch von der Politik fordert sie ein grundsätzliches Umdenken: „Im Moment wird man bestraft, wenn man nachhaltig baut. Es kann doch nicht sein, dass es so viel
billiger ist, ein Haus aus Beton zu bauen, als wenn man mit lokalen Leuten und lokalem Material arbeitet.“ Ein Lehmhaus koste im Schnitt 20 Prozent mehr als ein herkömmliches Massivhaus. Heringer verlangt deshalb eine „Kostenwahrheit“, die die CO2- und Müllbelastung miteinberechnet und Lehm und Arbeitsstunden entsprechend niedriger, Beton dagegen höher besteuert.
Sie lebt heute wieder in Laufen, mit Mann und Tochter. Ihr Haus hat sie selbstverständlich mit Lehm verputzt, ihr Büro in einem blau getünchten Altstadthaus mit bunten Stoffen dekoriert. Sie stammen von einem Projekt, das sie im selben Dorf in Bangladesch initiiert hat, wo auch die METI-Schule steht. Rund 30 Näherinnen fertigen dort aus alten Saris Kissen, Schals und Westen, die in Deutschland verkauft werden. Die Löhne sind fair, die Arbeitsbedingungen in dem luftigen Lehmbau nicht vergleichbar mit den Zuständen, die in den meisten Textilfabriken des Landes herrschen. Zudem können die Näherinnen so bei ihren Familien im Dorf bleiben. „Architektur ist ein Instrument, um das Leben zu verbessern“, sagt Heringer. Sie meint es ernst.