Daniil Trifonov verliert beim Barockkomponisten alles Zeitgefühl
NZZ Feuilleton / November 2021
In einem anderen Leben wäre Daniil Trifonov vielleicht ein Sternenforscher, befasst mit den überirdischen Dingen. Tatsächlich ist der 1991 in Nischni Nowgorod geborene Russe mit dem scheuen Blick, den schulterlangen, braunen Haaren und dem wachen Geist einer der besten Pianisten der Gegenwart. Sein Spiel zeugt von tiefer Emotionalität, analytischer Überlegenheit und brillanter Technik gleichermassen. Gerade einmal 30 Jahre alt, umweht Trifonov bereits ein Hauch von Mythos.
Ein Oktobervormittag in Berlin. Am Vorabend hat Daniil Trifonov einen weiteren Preis entgegengenommen und im Konzerthaus am Gendarmenmarkt die Klavierbearbeitung des Chorals «Jesus bleibet meine Freude» gespielt; nun kauert er in der unterkühlt gestylten Bar eines Hotels in Berlin-Mitte am Tisch, nippt am Wasser und streicht mit seinen langen, schmalen Fingern unruhig über die Tischplatte. Gleich nach dem Gespräch wird er wieder nach München fahren und dort die Einweihung der Isarphilharmonie mit den Beethoven-Klavierkonzerten fortsetzen. Parallel dazu bereitet er Soloauftritte mit seinem neuen Bach-Programm vor.
«The Art of Life» heisst dieses Doppelalbum mit Bachs «Kunst der Fuge» und der D-Moll-Chaconne im Zentrum, eingerahmt von verschiedenen kleinteiligen Werken Bachs sowie Kompositionen seiner Söhne. Es ist ein eigenwilliges, farbenreiches Programm, das die Schwere und Komplexität des polyphonen Spät- und Gipfelwerks durch die Kombination mit leichtfüssig daherkommenden Stücken der Söhne Wilhelm Friedemann und Carl Philipp Emanuel sowie Auszügen aus dem «Notenbüchlein für Anna Magdalena Bach» in ein anderes Licht taucht.
Smalltalk liegt Trifonov nicht, mit Glückwünschen kann er wenig anfangen, und die profanen Dinge des Lebens, der Hotel-Check-out etwa oder eine Zugbuchung, scheinen ihn schnell zu überfordern. Nur selten sucht er während des Gesprächs den Blickkontakt, meist hält er den Kopf gesenkt und spricht leise, aber bestimmt. Erst als er an diesem Vormittag über Bach sprechen kann, entspannen sich seine Gesichtszüge, und als er beginnt, einige der Fugen zu analysieren, huscht mit einem Mal ein Lächeln über sein Gesicht, und seine Augen leuchten.
Aus Sicht von Trifonov ist Bach für jeden Musiker unausweichlich. Immer wieder ist der Pianist im Lauf seines Lebens zur Musik von Bach zurückgekehrt, und gerade in Phasen des Umbruchs hat er die Zentriertheit und die Tiefe der polyphonen Schöpfungen gesucht, etwa als er sich mit 13 die Hand brach und nicht Klavier spielen konnte; oder als er zum Studium nach Cleveland ging. Damals fand er in der Fremde allmorgendlich eine Heimat in den Kantaten des Barockkomponisten.
Bei der Beschäftigung mit der «Kunst der Fuge» haben Trifonov zuerst die «fast mathematischen Proportionen» fasziniert. Die These, dass dieses Werk mehr als musikalische Beweisführung denn als Stück für den Konzertsaal komponiert worden sei, hat ihn gleichwohl nie überzeugt. «Die ‹Kunst der Fuge› ist viel mehr als nur ein Zeugnis unglaublicher Kompositionstechnik», sagt Trifonov. «Da sind so viele vokale Elemente in den Fugen, und da ist so viel Wärme, Menschlichkeit und Emotion.»
Diese Entdeckungen haben Trifonov nach dem Menschen Bach forschen lassen. «Ich habe begonnen, über Bach nicht nur als Komponisten nachzudenken und nach Hinweisen auf ihn als Mensch in seinen Werken und denen seiner Kinder gesucht», erzählt Trifonov. Schliesslich sei Bachs Musik ausgesprochen kommunikativ und menschlich. Auch fänden sich immer wieder autobiografische Momente in den Stücken, etwa in der Chaconne, die Trifonov als «das wohl tragischste, emotionalste Stück» beschreibt, das Bach je komponiert habe. Ebenso in den kontemplativen Augenblicken der «Kunst der Fuge», in denen Bach scheinbar Vergangenem nachlausche.
Was war Bach wohl für ein Mensch, was vor allem für ein Vater für seine Kinder? Darüber könne man nur spekulieren, meint Trifonov – allerdings: Bach sei definitiv involviert und interessiert gewesen als Vater und Erzieher, er glaube nicht, dass eine derartige Generation begabter Kinder in einer dysfunktionalen familiären Umgebung hätte entstehen können.
Im Vorfeld der Einspielung hat sich Trifonov vorrangig nichtpianistische Aufnahmen angehört, eine Transkription des letzten Kontrapunkts der «Kunst der Fuge» durch Carl Philipp Emanuel Bach für vierstimmigen Chor zum Beispiel, oder Versionen der Fugen mit Streichern oder nur mit Bläsern von den Amsterdam Bach Soloists. Bachs Musik funktioniere so gut auf anderen Instrumenten, sagt Trifonov, und mit dem Klavier könne man diese unterschiedlichen Klangfarben gut imitieren. In seiner Interpretation kommt dies eindrucksvoll zur Geltung.
Spielt Trifonov Bach, befindet er sich in einem «Zustand purer Konzentration», wie er sagt. Die Schöpfungen des Komponisten zu durchdringen, sei extrem fordernd für den Kopf, insbesondere die Aufführung der «Kunst der Fuge». Ein bisschen sei das mit dem Gefühl nach einem Prüfungsmarathon vergleichbar, wenn das Gehirn wie auf einer anderen Frequenz laufe. Dabei hat er ein interessantes Phänomen beobachtet: «Wenn ich Bach spiele, nehme ich das Verstreichen der Zeit nicht mehr wahr», so der Pianist. Normalerweise übe er selten länger als drei Stunden am Stück, dann brauche er eine Pause. Bei Bach hingegen sei er in der Lage, jeden Tag acht Stunden zu üben, ohne dass er diese als solche wahrnehmen würde.
Woran das liegt? «Ich kann nur mutmassen, aber ich glaube, es gibt da einen bestimmten Magnetismus. Je stärker die Gravitation eines Sterns, desto stärker bindet er Licht und Zeit.» Vielleicht gelte dies auch für die Musik: «Je stärker die Gravitation der Musik, desto stärker sind wir magnetisiert von ihr, und die Zeit um uns herum vergeht, ohne dass wir es wahrnehmen.» Keine Frage: In diesem Leben ist Daniil Trifonov ein musikalischer Sternenforscher.