Star-Geiger Daniel Hope wurde als Klassik-Virtuose berühmt. Nun veröffentlicht er ein Jazz-Album. Ein Gespräch über musikalische Grenzen und den American Dream.
Tagesspiegel / Februar 2022
Herr Hope, Ihr neues Album heißt „America“. Sie haben einmal gesagt, man würde sofort hören, wenn ein Stück aus den USA stammt. Wie würden Sie diesen besonderen Klang beschreiben?
Das ist spannend. Wenn man ein Stück von Aaron Copland hört, dann hat man eine fast klischeehafte Westernlandschaft mit einer weiten Prärie vor Augen und spürt den amerikanischen Pioniergeist. Aber genauso ist es, wenn ich Scott Joplin oder Duke Ellington, George Gershwin oder Leonard Bernstein höre: Ich denke sofort an Amerika. Daran sieht man, wie vielfältig diese Konstellation von Amerika ist und wie wichtig der afroamerikanische Einfluss war. Ebenso wichtig ist der Einfluss der Einwanderer für das, was wir als amerikanisch wahrnehmen. Wenn man Amerika in all seiner Vielfalt erlebt, erstaunt es einen immer wieder, wie groß dieses Land ist. Das hat eine enorme psychologische Wirkung. Ich habe viel Zeit damit verbracht, die Geschichten der emigrierten Musiker dort zu erforschen und mich dabei gefragt, wie sie dieses Land damals empfunden haben müssen.
Welches Amerika erklingt auf Ihrem Album?
Ich habe mich letztlich auf 35 Jahre konzentriert, von Mitte der 30er- bis Ende der 60er-Jahre des 20. Jahrhunderts. Das war eine Zeit, in der ein enormer Aufbruch in Amerika stattgefunden hat, politisch sowie musikalisch. Maßgeblich für diese Jahre war das Ende der Prohibition, die Entwicklung des Jazz, die Bürgerrechtsbewegung und viele andere. Duke Ellington bleibt für mich eine zentrale Figur der amerikanischen Musik, die man nicht genug ehren kann. Ich wollte anhand dieser Jahre zeigen, wie reichhaltig die amerikanische Musik ist und wie sehr sie ein Schmelztiegel für afroamerikanische, europäische, jüdische und zentraleuropäische Einflüsse war. Mich verbindet eine besonders enge Freundschaft mit dem afro-amerikanischen Jazzpianisten Marcus Roberts, mit dem ich zahlreiche Konzerte zusammen gespielt habe. Ursprünglich war die Idee, ein Projekt zu kreieren, das die Welten der Klassik und des Jazz miteinander verbindet. Dann habe ich mich in die Materie vertieft und bin bei der Frage gelandet: Was ist Amerika eigentlich? Wo ist Amerika, wo war es und wo geht es hin?
Sie sehen Jazz und Klassik als zwei Welten?
Ja, das sind tatsächlich zwei Welten. Sie sind einerseits miteinander verwandt, aber andererseits völlig losgelöst voneinander. Es gelingt sehr selten, dass diese Welten bei einem Konzert oder auf einem Album koexistieren, ohne dass es sich nur um einen oberflächlichen Effekt handelt. Wir wollten das mit diesem Album anders lösen.
Was meinen Sie damit genau?
Nehmen Sie zum Beispiel George Gershwin. In seinen Werken stecken diese beiden Welten par excellence drin, er war einer der wenigen klassischen Komponisten, der sie in seiner Musik wie in einer gemeinsamen Sprache zusammengebracht hat. Weil beides ein Teil von ihm war.
Es gibt ja viele Crossover-Projekte. Findet die Begegnung der Welten nicht bereits statt?
Ja, es gibt heute definitiv eine größere Neugierde auf beiden Seiten, etwas miteinander auszuprobieren, und viele klassische Musiker haben den Wunsch, „ein bisschen Jazz“ zu spielen. Wir sind allerdings als klassische Musiker oft nicht darauf vorbereitet, groß zu improvisieren. Wir haben einen vollkommen anderen Zugang zu dem Instrument, wir lernen Notation und die Werke zu studieren, die es schon lange gibt. Das ist konträr zu dem, was ein Jazzmusiker macht. Ich hatte das große Glück, dass meine erste Geigenlehrerin mir das Improvisieren beigebracht hat und zwar gleich mit der ersten Tonleiter. Ich möchte keineswegs behaupten, dass ich Jazzmusiker bin. Aber ich habe die Fähigkeit, zu improvisieren – also die Strukturen der Jazzmusik zu verstehen und auf meine Art zu reagieren. Das war die Brücke zu Marcus Roberts. Für mich war das unglaublich inspirierend: Nicht nur die Tür aufzumachen in den Jazzsaal, sondern da wirklich hineinzugehen.
Gibt es ein Stück auf dem Album, das Ihnen besonders viel bedeutet?
Ja, zweifelsohne „Come Sunday“ von Duke Ellington. Interessanterweise gibt es eine Fernsehaufnahme aus den 50er- Jahren von diesem Stück mit Duke Ellington und Yehudi Menuhin. Es ist ein alter Schwarzweiß-Film, den ich seit meiner Kindheit kenne. Das ist ein faszinierendes Dokument. Was Menuhin hier macht, mit welcher Inbrunst und Offenheit er dieses Stück interpretiert, und wie Ellington ihm gleichzeitig mit feiner Zurückhaltung, weil er ihn offensichtlich sehr verehrt, aber eben doch die Richtung zeigen möchte, das ist eine unglaublich schöne Beobachtung. Mein Traum war es, etwas von diesem gegenseitigen Respekt widerzuspiegeln auf unserem Album. Also nicht ein klassischer Geiger zu sein, der nun auch ein bisschen Jazz macht, sondern, von der Klassik kommend, sich zu öffnen und wirklich frei zu empfinden.
Sie leiten das New Century Chamber Orchestra und sind regelmäßig in Amerika. Welches Land erleben Sie dort?
Ich erlebe ganz unterschiedliche Seiten. Gerade in Kalifornien überwältigen einen die Freundlichkeit und der Optimismus nach wie vor. Die Amerikaner werden ja oft als oberflächlich abgestempelt. Aber das empfinde ich anders: Es ist einfach eine andere Art, mit Distanz und Höflichkeit umzugehen. Es gibt dort eine solche Frische und Begeisterung für Musik und alles Gestalten. Und gleichzeitig spürt man eine zunehmende Verhärtung der Gesellschaft. Das Land ist hoch polarisiert und gespalten und steht vor zunehmend großen Schwierigkeiten und Problemen. Ich bin gespannt, wie und ob man sie lösen kann. Aber dies gilt inzwischen auch für Europa.
Wenn Sie in Amerika auftreten – treffen Sie dort auf ein anderes Publikum als in Europa?
Oh ja. Es gibt bei den Konzerten eine unglaubliche Energie und einen starken Enthusiasmus, sowohl bei den Musikern als auch beim Publikum. Die Menschen dort lieben die Kommunikation. Wenn man in Amerika auf die Bühne kommt und nicht als Erstes „Guten Abend“ sagt, sind die Leute irritiert. Dies versetzt mich zurück in meine Kindheit, als ich Leonard Bernstein auf der Bühne erleben durfte. Allein wie er auf die Bühne kam und mit dem Publikum sprach, bevor er anfing zu spielen: Diese Art, eine Brücke zu bauen, hat mich tief beeindruckt.
Sie haben das Album Ihrer Großtante gewidmet, die 1939 in die USA fliehen musste. War Amerika für Ihre Familie seither ein Sehnsuchtsort?
Ja, Amerika war natürlich immer mit dem Freiheitsgedanken verbunden. Meine Tante Leni ist im April 1939 aus Berlin über Schweden nach Amerika geflohen. Und das Faszinierende ist: In dem Moment, in dem sie dort ankam, hat sie sich entschlossen, ab sofort Amerikanerin zu sein. Ihr Spitzname war zwar dort „Frau Deutschland“ und sie war mit ihrem Akzent bis zu ihrem Lebensende unverkennbar deutsch. Aber es wurde kein Deutsch mehr gesprochen und alles, was amerikanisch war, war gut. Sie ist nie wieder zurückgegangen nach Deutschland, und wenn die amerikanische Nationalhymne gespielt wurde, hat sie geweint.
Wenn Sie das heutige Amerika betrachten – finden Sie da noch etwas vom American Dream Ihrer Tante wieder?
Ja, ich spüre das noch. Obwohl die Welt natürlich eine andere geworden ist: Nach der so langen Unterdrückung der Afroamerikaner findet jetzt eine frontale Konfrontation mit diesem Teil der amerikanischen Geschichte statt. Das verändert Amerika einerseits, aber die Wunden sind tief.
Ist Ihr Album ein politisches Statement?
Ich glaube, dass eine Auseinandersetzung mit dieser Zeit nie wirklich unpolitisch sein kann, ein Statement ist es allerdings nicht. Es ist eher die musikalische Verkörperung der Geschichte eines Landes, das sehr viel durchgemacht hat, aber die Menschen bis heute noch immer inspiriert. In einer extrem kurzen Zeit hat sich dort eine solche Vielfalt und unglaubliche Dynamik entwickelt. Und dies finde ich einfach fantastisch.