«Wenn man Kunst macht, darf man keine Angst davor haben, dass Leute sich aufregen», sagt der Komponist Moritz Eggert
NZZ / März 2024
Er kritisiert die Nostalgie im Konzertbetrieb und akademische Blasen in der Gegenwartsmusik. Entscheidend sei nicht, was alles in den Partituren stehe, sondern dass Musik ihre Hörer unmittelbar erreiche, meint Moritz Eggert. Begegnung mit einem Provokateur wider Willen.
Mit Klischees sollte man vorsichtig sein. Jenem vom verrückten Künstler zum Beispiel, der mit Hingabe Konventionen sprengt und die Provokation zu seinem Lebensinhalt erklärt. Einer, der dieses Bild angeblich hinreichend erfüllt, ist Moritz Eggert: Komponist, Pianist und oft als «Bad Boy of Music» betitelt. Anfang März sitzt dieser böse Knabe in einem Hotel in Lörrach – und seufzt erst einmal tief. Unzählige Male schon wurde er mit diesem Klischee konfrontiert, unzählige Male schon fühlte er sich verkannt. «Ein bisschen Verrücktheit gehört dazu», sagt Eggert, aber Provokation als Selbstzweck habe ihn nie interessiert. Stattdessen gehe es ihm darum, in seiner Kunst wahrhaftig zu sein, sich selbst und den Hörern gegenüber.
Im Gespräch ist der 58-Jährige ein reflektierter, feinsinniger Zeitgenosse, der die Freiheit der Kunst mit Leidenschaft verteidigt – nicht zuletzt gegenüber Denkverboten. Genauso unbeeindruckt von ästhetischen Dogmen komponiert er auch. Mit seinem Zyklus «Hämmerklavier» erweitert er das Klavierspiel ins Performative, teilweise mit Ganzkörpereinsatz. Für die WM 2006 hat er ein Fussball-Oratorium («Die Tiefe des Raumes») geschaffen, das die religiöse Verehrung im Sport ironisiert. Und im Liederzyklus «Neue Dichter Lieben» vertont er Gedichte zeitgenössischer Autoren als Spiegel und Brechung romantischer Liebesemphase.
Oft waren die Zuhörer begeistert, manchmal hagelte es Verrisse, sogar von handgreiflichen Auseinandersetzungen im Publikum weiss er zu berichten. «Ich bin nicht auf Krawall gebürstet», stellt Eggert klar. Allerdings findet er auch: «Wenn man Kunst macht, darf man keine Angst davor haben, dass Leute sich aufregen.»
Im beschaulichen Lörrach ist die Stimmung derweil friedlich. Hier zeigt sich Eggert mit seiner Vertonung des Hitchcock-Psychodramas «Blackmail» erstmals auch als Filmmusikkomponist. Im Herbst wird die Kooperation auf Arte zu sehen sein, Anfang März feierte sie im Burghof Lörrach unter der Leitung von Titus Engel ihre Uraufführung, gespielt von der Basel Sinfonietta. Im Zentrum des Films steht, modern gesprochen, eine #MeToo-Geschichte rund um Alice, eine Frau, die in Notwehr ihren Liebhaber ersticht, der sie vergewaltigen wollte. Ihr Mann, ein Polizist, soll den Mord aufklären. Im Verlauf der Geschichte wird Alice von einem Mitwisser erpresst, am Ende schützt sie ihr Mann, und sie bleibt frei; die Schuld aber wird zu ihrem inneren Gefängnis.
Für seine Komposition hat Eggert den Film Szene um Szene durchdrungen. Sein Respekt vor Hitchcocks Meisterschaft ist dabei nur gewachsen. «Man merkt, mit wie viel Liebe und Kunstfertigkeit wirklich jedes Detail stimmt. Da ist alles absichtlich, nichts zufällig. Das ist einfach nur genial», so Eggert. Während seiner Arbeit hat er in Gedanken mit dem Regisseur kommuniziert und sich gewissermassen als Teil des Teams gefühlt. Detailgenau verknüpft mit den jeweiligen Kameraeinstellungen und Schnitten, entstand auf diese Weise eine psychologische Klangkulisse, die Hitchcocks spannungsvolle Bildsprache packend in Töne übersetzt.
«Freie Musik» – so nennt Eggert seine Art zu komponieren. Frei zu sein, bedeutet für ihn auch, dass er unabhängig ist von bestimmten Erwartungshaltungen. Besonders befremden ihn jene, die seiner Erfahrung nach im akademischen Kontext bei Neue-Musik-Verfechtern vorherrschen.
Schon etliche Male sass Eggert in der Jury von Kompositionswettbewerben und hat dort erlebt, welche ungeschriebenen Gesetze über die Auswahl eines Stückes entscheiden: «Das Partitur-Bild muss kompliziert aussehen. Die Streicher müssen immer geteilt sein. Es muss möglichst viele Taktwechsel geben. Jedem Stück muss eine mindestens zehnseitige Legende mit Spielanweisungen und technischen Spezialeffekten beiliegen. All diese Dinge spricht zwar keiner aus, aber sie entscheiden über die Anerkennung im akademischen Zirkel», so Eggert.
Aus seiner Sicht geht das komplett an der Sache vorbei: «Wenn du im Publikum sitzt, interessiert dich doch nicht, was in der Partitur steht», meint Eggert. Entscheidend sei allein die Frage, ob die Zuhörer berührt würden von der Musik und ihre Intention verstünden. «Wir müssen als Komponisten mehr in Kontakt sein mit dem Publikum, um zu merken, ob wir überhaupt ankommen mit dem, was wir machen», findet Eggert.
Mit Anbiederung an simplen Hörgeschmack oder einer Abwertung der Hochschulen als Ausbildungsstätten hat das laut Eggert, der selbst eine halbe Stelle als Professor an der Musikhochschule München innehat, nichts zu tun. Stattdessen empfindet er es als seine Verantwortung als Künstler: «Es geht nicht darum, dass alle meine Musik lieben. Aber ich möchte, dass grundsätzlich jede Person einen Zugang zu meiner Musik finden kann, auch wenn sie keine akademische Ausbildung hat und noch nie klassische Musik gehört hat», sagt Eggert.
Wie also kam es zu dem «Bad Boy of Music»-Titel? Auslöser waren Artikel, die Eggert vor mittlerweile sechzehn Jahren in der «Neuen Musikzeitung» veröffentlicht hat. Mit Bezug auf die gleichnamige Autobiografie George Antheils übte er darin Kritik an Stereotypen der Neuen Musik. Die Reaktionen sprachen für sich: «Es gab zahlreiche böse Leserbriefe, und Leute haben mich krass beschimpft und beleidigt», sagt Eggert. Das «Bad Boy»-Image ist ihm geblieben, er trägt es mittlerweile mit Fassung. Vor allem aber bezieht er auf seinem «Bad Blog Of Musick» weiterhin regelmässig Stellung, entlarvt akademische Blasen und hinterfragt das Selbstverständnis zeitgenössischer Musik.
Viel zu lange habe sich die klassische Kunst «in einer Nostalgie-Blase eingekuschelt». Dabei sei er absolut dafür, alte und ältere Musik aufzuführen. «Aber wir brauchen gleichberechtigt auch die heutige Musik, denn nur diese kann einordnen, was heute passiert. Sie kann Visionen für die Zukunft entwickeln, Vergangenheitsbewältigung sein und Kommentar zur Gegenwart.»
Er selbst versucht diesem Anspruch mit jedem seiner Werke gerecht zu werden, im vollen Bewusstsein, dass das Scheitern dazugehört. Umso mehr reizt es ihn, immer wieder aufs Neue einzutreten in den «wilden, freien Raum der Kreativität». «Je bescheuerter eine Idee ist, desto interessanter finde ich sie und desto kreativer werde ich», sagt Eggert. «Die Möglichkeit im Unmöglichen» zu finden – das ist es, was ihn antreibt.
Das Leben vor den Gittern
KOMMUNAL / März 2023
Kommunen mit einer Justizvollzugsanstalt haben ein gewöhnungsbedürftiges Alleinstellungsmerkmal. Was für die meisten die Ausnahme ist, ist dort Normalität: Ein Gebäude mit Gittern mitten im Ort, An- und Abtransporte von Insassen, Freigänger im offenen Vollzug und besondere Sicherheitsvorkehrungen. Gleichwohl ist die JVA ein autarkes System, das auf die Kommune oft nur indirekt wirkt. So etwa in Schwäbisch Hall. In den 1840er Jahren wurde das Gefängnis in Innenstadtnähe am Kocher erbaut, 1998 zog die JVA in das Gewerbegebiet Stadtheide im Westen der Stadt. Heute ist die JVA zwar ein großer Arbeitgeber, „Berührungspunkte mit dem Alltag vieler Schwäbisch Hallerinnen und Haller gibt es aber nur wenige“, so der Oberbürgermeister Daniel Bullinger, und es seien auch keine Ängste in der Bevölkerung wahrzunehmen. In der täglichen Arbeit der Stadtverwaltung spielt die JVA laut Bullinger nur eine geringe Rolle, etwa wenn es um melderechtliche Formalitäten geht oder Abstimmungen bei konkreten Projekten. So gab es etwa einen intensiven Austausch im vergangenen Jahr, als es um die Entscheidung ging, ob in der Nachbarschaft der JVA ein Maßregelvollzug durch das Land errichtet wird.
In Dieburg liegt die JVA unweit der Fußgängerzone derart zentral, dass man ständig daran vorbei läuft, wie Bürgermeister Frank Haus feststellt. Von den Dieburgern wird dies routiniert hingenommen. „Ich bin selbst hier geboren und aufgewachsen, das Gebäude gehört einfach dazu – darüber denkt man kaum mehr nach“, sagt der Bürgermeister
Die mit dem Lehm tanzt – Anna Heringer
BRIGITTE / Februar 2022
Die Zukunft ist goldbraun und feucht und liegt im Schnitt 40 Zentimeter unter unseren Füßen. Lehm heißt das Material, von dem Anna Heringer überzeugt ist, dass es das Bauen revolutionieren könnte – und außerdem das Klima retten und viele Menschen glücklicher machen. Doch von vorn.
Heringer, 45, wache Augen, herzliches Lachen, ist im oberbayerischen Städtchen Laufen aufgewachsen. Der Garten ihres Elternhauses lag auf einem früheren Friedhof – „die Vergänglichkeit war also allgegenwärtig, die Erdverbundenheit auch“, sagt sie. Als Pfadfinderin errichtete sie mit ihren Kameradinnen Hütten aus Holz und Erde. Erlebnisse, die sie sehr prägten, wie sie sagt. Nach dem Abitur ging sie als Entwicklungshelferin nach Bangladesch, dann nach Linz, um Architektur zu studieren.
Menschen dabei helfen, sich selbst zu helfen, und Häuser bauen – diese zwei Anliegen wollte sie verbinden. Doch die konventionelle Baupraxis, das merkte sie rasch, war dafür kaum geeignet. „Bauprojekte großer Investoren werden meist ohne Einbindung der Ressourcen vor Ort und entkoppelt von den Bedürfnissen der Menschen umgesetzt“, sagt sie. Als Material dient meist Beton, weil er gut formbar ist, vor Schall und Feuer schützt. Doch die CO2-Bilanz des Gemischs aus Zement, Sand und Wasser ist schlecht:
Drei Milliarden Tonnen CO2 gehen jährlich auf die Zement-Produktion zurück, das sind zehn Prozent des vom Menschen ausgestoßenen Treibhausgases. Zudem ist Beton nur schwer recycelbar.
Noch als Studentin suchte Heringer nach Alternativen. Ein Workshop des österreichischen Künstlers Martin Rauch stieß sie auf Lehm als Material. Das Verwitterungsprodukt aus Sand, Quarzmehl und Ton war für sie eine Offenbarung
Sein Schmäh und seine Wut
Passauer Neue Presse / November 2022
Mit Legenden auf der Bühne ist es so eine Sache. Abnutzungserscheinungen sind möglich, Enttäuschungen ebenso, Risiken und Nebenwirkungen des Alters eben. Mit etwas Glück aber machen das Lebenserfahrung und Reife wieder wett. Bei Rainhard Fendrich, der am Sonntag im Rahmen seiner „Starkregen“-Tour in der voll besetzten Dreiländerhalle zu Gast war, ist Zweiteres der Fall.
Ob Drogensucht oder zerbrochene Ehen: Fendrich hat einiges erlebt und es ist ihm ins Gesicht geschrieben. Die Furchen sind tiefer geworden, die Haare grauer. Seine kraftvolle Stimme aber, sein Schmäh, seine Wut und seine kernige Präsenz sind unverkennbar, angereichert durch die Tiefe und Ernsthaftigkeit eines älteren Mannes auf der Suche nach dem Sinn.
„Ich kann auch improvisieren“
Star-Geiger Daniel Hope wurde als Klassik-Virtuose berühmt. Nun veröffentlicht er ein Jazz-Album. Ein Gespräch über musikalische Grenzen und den American Dream.
Tagesspiegel / Februar 2022
Herr Hope, Ihr neues Album heißt „America“. Sie haben einmal gesagt, man würde sofort hören, wenn ein Stück aus den USA stammt. Wie würden Sie diesen besonderen Klang beschreiben?
Das ist spannend. Wenn man ein Stück von Aaron Copland hört, dann hat man eine fast klischeehafte Westernlandschaft mit einer weiten Prärie vor Augen und spürt den amerikanischen Pioniergeist. Aber genauso ist es, wenn ich Scott Joplin oder Duke Ellington, George Gershwin oder Leonard Bernstein höre: Ich denke sofort an Amerika. Daran sieht man, wie vielfältig diese Konstellation von Amerika ist und wie wichtig der afroamerikanische Einfluss war. Ebenso wichtig ist der Einfluss der Einwanderer für das, was wir als amerikanisch wahrnehmen. Wenn man Amerika in all seiner Vielfalt erlebt, erstaunt es einen immer wieder, wie groß dieses Land ist. Das hat eine enorme psychologische Wirkung. Ich habe viel Zeit damit verbracht, die Geschichten der emigrierten Musiker dort zu erforschen und mich dabei gefragt, wie sie dieses Land damals empfunden haben müssen.
Ein Stern namens Bach
Daniil Trifonov verliert beim Barockkomponisten alles Zeitgefühl
NZZ Feuilleton / November 2021
In einem anderen Leben wäre Daniil Trifonov vielleicht ein Sternenforscher, befasst mit den überirdischen Dingen. Tatsächlich ist der 1991 in Nischni Nowgorod geborene Russe mit dem scheuen Blick, den schulterlangen, braunen Haaren und dem wachen Geist einer der besten Pianisten der Gegenwart. Sein Spiel zeugt von tiefer Emotionalität, analytischer Überlegenheit und brillanter Technik gleichermassen. Gerade einmal 30 Jahre alt, umweht Trifonov bereits ein Hauch von Mythos.
Ein Oktobervormittag in Berlin. Am Vorabend hat Daniil Trifonov einen weiteren Preis entgegengenommen und im Konzerthaus am Gendarmenmarkt die Klavierbearbeitung des Chorals «Jesus bleibet meine Freude» gespielt; nun kauert er in der unterkühlt gestylten Bar eines Hotels in Berlin-Mitte am Tisch, nippt am Wasser und streicht mit seinen langen, schmalen Fingern unruhig über die Tischplatte. Gleich nach dem Gespräch wird er wieder nach München fahren und dort die Einweihung der Isarphilharmonie mit den Beethoven-Klavierkonzerten fortsetzen. Parallel dazu bereitet er Soloauftritte mit seinem neuen Bach-Programm vor.
«The Art of Life» heisst dieses Doppelalbum mit Bachs «Kunst der Fuge» und der D-Moll-Chaconne im Zentrum, eingerahmt von verschiedenen kleinteiligen Werken Bachs sowie Kompositionen seiner Söhne. Es ist ein eigenwilliges, farbenreiches Programm, das die Schwere und Komplexität des polyphonen Spät- und Gipfelwerks durch die Kombination mit leichtfüssig daherkommenden Stücken der Söhne Wilhelm Friedemann und Carl Philipp Emanuel sowie Auszügen aus dem «Notenbüchlein für Anna Magdalena Bach» in ein anderes Licht taucht.
Smalltalk liegt Trifonov nicht, mit Glückwünschen kann er wenig anfangen, und die profanen Dinge des Lebens, der Hotel-Check-out etwa oder eine Zugbuchung, scheinen ihn schnell zu überfordern. Nur selten sucht er während des Gesprächs den Blickkontakt, meist hält er den Kopf gesenkt und spricht leise, aber bestimmt. Erst als er an diesem Vormittag über Bach sprechen kann, entspannen sich seine Gesichtszüge, und als er beginnt, einige der Fugen zu analysieren, huscht mit einem Mal ein Lächeln über sein Gesicht, und seine Augen leuchten...
Momente des Lebens
Alice Sara Ott über ihr Album mit Werken von Chopin und zeitgenössischen Komponisten und ihren Umgang mit der Tradition
AZ München / August 2021
Ihr neues Album „Echoes Of Life“ unterscheidet sich deutlich von konventionellen Klassikalben. Wie kam diese Entwicklung hin zum Konzeptalbum?
Das war ein längerer Prozess. Ich komme ja aus einer sehr traditionellen Schule. Im Studium haben wir uns vor allem mit den Stücken beschäftigt. Es ging immer nur um die Pflege der Tradition und ich bin mit vielen Regeln aufgewachsen.
Was für Regeln waren das?
Die Regeln des klassischen Konzertbetriebs. Ein Konzert hat zwei Hälften, man ordnet die Stücke des Programms chronologisch, man kleidet sich formell… Es hieß immer einfach „so macht man das“ und ich habe das total verinnerlicht und war gegenüber allem misstrauisch, was anders war. Aber ich habe nie gelernt, mich mit der Frage auseinanderzusetzen, was es eigentlich bedeutet, eine Künstlerin im 21. Jahrhundert zu sein.
Haben Sie darauf mittlerweile eine Antwort gefunden?
Es ist ein sich verändernder Prozess, aber ich glaube, für mich zumindest eine Richtung gefunden zu haben. Ich denke heute ganz anders über Konzepte nach und entferne mich immer mehr von der Tradition. Nicht, was die Musik anbelangt. Da bin ich im klassischen Repertoire zuhause. Aber ich finde, wir Künstler heute haben die Aufgabe, die Musik in den Kontext unserer Zeit zu stellen. Und dazu dürfen wir uns den Möglichkeiten unserer Zeit nicht einfach verschließen. Die Leute hören ganz anders Musik als früher und man stellt sich seine Streaming Playlist heute selbst zusammen je nach Stimmung. Die Grenzen verschwimmen immer mehr und das finde ich persönlich schön.
Sie selbst haben die Grenzen erstmals bei Ihrem Album „Chopin-Project“ verschwimmen lassen.
Ja, das war eine lustige Geschichte, die ganz zufällig entstanden ist über die Begegnung mit dem isländischen Komponisten Ólafur Arnalds. Als er mich gefragt hat, ob ich Lust hätte, mit ihm ein Projekt zu machen, war ich erstmal ziemlich skeptisch und wollte fast ablehnen. Dann habe ich mir gedacht: Ach komm, im Zweifelsfall kann ich es ja immer noch später unterbrechen, jetzt schaue ich erstmal, was passiert. Im Endeffekt ist daraus das Chopin Projekt entstanden, auf dem ich nach wie vor klassisches Repertoire spiele, aber Ólafur dazwischen komponiert hat und die Grenzen dadurch verschwimmen. Das war für mich eine vollkommen neue Erfahrung.
Auf Ihrem neuen Album kombinieren Sie Chopins Préludes mit zeitgenössischen Stücken. Wie ist dieses Programm entstanden?
Die Zusammenstellung war ein langer Prozess und ein Experiment. Als ich die Stücke dann zum ersten Mal auf einer zusammengestellten Playlist komplett angehört habe, hatte ich Gänsehaut. Weil ich gemerkt habe, dass die Idee funktioniert und so deutlich wurde, wie zeitlos Musik ist. Wenn so etwas geschieht – das sind Momente, die ich liebe...
Vom Zweifeln und Hadern
Der Schauspieler Robert Stadlober taucht in der Hörbiographie „die Liebe liebt das Wandern“ tief ein in das Leben von Franz Schubert
crescendo / November 2020
Was wäre gewesen, wenn? Was war Zufall, was Fügung, was Glück, was Pech? Es gehört zum Faszinierendsten des Menschseins, dass sich die Auswirkungen von Ereignissen und Begegnungen auf das weitere Leben meist erst im Rückblick erschließen lassen. Besonders spannend ist dieses Phänomen bei der Rezeption von Kunst aus längst vergangenen Tagen zu erleben. Heute als Meisterwerk für sich betrachtet, entstand doch auch jedes Stück Musik, jedes Gemälde und jedes Gedicht immer im Kontext seiner Zeit, inspiriert oder herausgefordert durch gesellschaftliche und politische Ereignisse, als Widerhall auf persönliche Schicksalsschläge und eingebettet in die individuelle Lebenssituation und Gefühlslage seines Schöpfers. Die Hörbiografien, die bereits seit etlichen Jahren beim Bayerischen Rundfunk erscheinen, setzen genau hier an. Leben und Wirken eines Komponisten werden in diesem Format als Collage aus Musikwerken, Dokumenten, Tagebuchnotizen oder Briefen aufbereitet, wobei es gerade die Widersprüche, Ambivalenzen und Brüche sind, die im Rückblick aufhorchen lassen...
„Rock it, Rudi!“
"Seelenverwandt und menschlich sehr nahe", so beschreibt der Pianist Rudolf Buchbinder sein Verhältnis zu Beethoven. Dessen Diabelli-Variationen sieht er als sein Lebenswerk. Und stellt ihnen verwandte Werke anderer Komponisten zur Seite. Das Ergebnis: mehr als einmal eine Verneigung vor Buchbinder.
crescendo / März 2020
Ein schlichtes „B“ steht neben der Klingel am Gartentor. „B“ wie Buchbinder. 73 Jahre alt, Weltklassepianist und längst ein Wiener Original. Seit über 40 Jahren wohnt Rudolf Buchbinder am Rande der österreichischen Hauptstadt. Von diesem Ort aus bereist der Künstler die Bühnen der Welt, gefeiert als hingebungsvoller Solist und passionierter Bühnenmensch mit brillanter Technik und ebenso direktem wie tiefgründigem Zugang zu den jeweiligen Stücken.
Buchbinder hat das Haus damals selbst entworfen und sein Arbeitszimmer unter dem Giebel so geplant, dass er vom Flügel aus durch die breiten Glasfronten auf die Wiener Hügel blicken kann. Auf der einen Seite des Raumes stehen zwei Steinway-Flügel, daneben thront die Beethoven-Büste, dahinter erstrecken sich prallgefüllte Regalwände mit Buchbinders Sammlung von Autographen und Erstausgaben, dem kompletten Werk von Shostakovich zum Beispiel, oder alleine 39 verschiedenen Erstausgaben der Beethoven Klaviersonaten. Auf der anderen Seite des Raumes nimmt der Pianist auf einem grauen Sofa mit aufgedruckten Klavieren Platz, nippt am „Kleinen Braunen“, öffnet später eine Cola und springt während des Gesprächs immer wieder unvermittelt auf. „Passen Sie auf, ich zeige Ihnen etwas“, ruft er inspiriert, eilt hinüber zur Regalwand und zieht zielsicher das jeweilige Stück heraus, von dem gerade die Rede war. Über den Flügel gebeugt, geht man mit Buchbinder dann auf Erkundungstour im Notationstext – empört sich über fehlerhafte Verlagseintragungen, entdeckt den Geschäftssinn eines Diabelli und Beethovens Vorliebe für sforzati.
Das Haus von Rudolf Buchbinder und seiner Frau ist eine Schatzkiste, prall gefüllt mit Zeugnissen eines reichen Künstlerlebens. Unzählige Bilder, Andenken und Widmungen an den Wänden und auf den Anrichten erzählen von Buchbinders Sinn für Kunst und seiner Freude an Geselligkeit...
In der Welt nur liegt die Kraft
Der Dirigent Lionel Bringuier stammt aus Nizza und kehrte an die dortige Oper zurück. Weltweit tritt er auf, und immer braucht er das ganze laute Leben um sich herum
CICERO / Februar 2020
Lionel Bringuier mag das ungefilterte Rauschen des Alltags. Während andere Musiker jenseits der Bühne die Stille und die akustische Askese suchen, genießt Bringuier das laute Leben. Ein Vormittag Ende September in einem Café in der Altstadt von Nizza. Die Tische sind gut gefällt, aus dem Radio tönt Musik, hinter der Theke klappert das Geschirr. Mittendrin sitzt Lionel Bringuier, lächelt und nippt an seinem Espresso. „Ich brauche das um mich herum, die Leute, den Lärm“, sagt der Dirigent. Bringuier ist indes kein lauter Typ, sondern ein zugewandter und aufmerksamer Beobachter. Zum Dirigieren hat der 33-Jährige eher zufällig gefunden. Aufgewachsen in Nizza, war die dortige Oper schon früh sein „zweites Zuhause“. Mit fünf Jahren bekam er seinen ersten Cello-Unterricht und bald war ihm klar, dass er Musiker werden wollte. Mit 13 Jahren ging er ans Konservatorium nach Paris, parallel zum Cello-Studium begann er mit dem Dirigieren – es wurde sein Lebensinhalt. Doch auch wenn Bringuier mittlerweile ausschließlich vor dem Orchester steht, ist er in seinem Grundverständnis ein Kammermusiker geblieben. „Es ging mir nie darum, im Rampenlicht zu stehen“, sagt der Künstler. „Ich wollte immer schon einfach nur Musik mit anderen Menschen machen.“
Längst lebt er diesen Wunsch auf den großen Bühnen...