Fast 17.000 minderjährige Flüchtlinge kamen allein im vergangenen Jahr in Bayern an. Eine Herausforderung für Jugendämter und Ehrenamtliche. Die KOMMUNAL-Mutmacher-Reportage: über mutige Behörden, die mit ihren schweren Aufgaben wachsen, mutige Pflegeeltern, die viel Kraft geben und Jugendliche, die bereits viel Mut bewiesen haben.
KOMMUNAL / März 2016
Als der achtjährige Farzad zum ersten Mal seit langem wieder eine Nacht durchgeschlafen hatte, wusste er, dass er angekommen war. Es war an einem Morgen im November, unter ihm schlief im Stockbett die neunjährige Anja, in den Regalen stapelten sich farbenfrohe Spielsachen, wenige Zimmer weiter erwachten sein Bruder Fazluddin, die dreijährigen Zwillinge Felix und Franziska, seine neuen Pflegeeltern Petra und Matthias Krause, außerdem zwei Hunde und eine Katze. Binnen weniger Wochen war die Familie Krause zur Großfamilie geworden und zwei afghanische Flüchtlingsjungen fanden ein neues Zuhause.
Gut zwei Monate später. Es liegt Schnee in Neukirchen am Inn, einem kleinen Ort in Niederbayern unweit von Passau. Gerade noch sausten die Kinder mit den Schlitten über die Piste, nun sitzen sie mit geröteten Wangen um den großen Esstisch in der Wohnküche. „Ich wollte schon immer einen gleichaltrigen Bruder haben“, sagt Anja und grinst zufrieden, dann mopst sie ein Keks vom Teller und kichert, während Felix lautstark um den Tisch saust und Petra Krause den Apfelstrudel aus dem Ofen holt. Mitten im turbulenten Treiben sitzen die Brüder Farzad und Fazluddin und lächeln still. Mit ihren acht und 17 Jahren haben sie Dinge erlebt, die kein Mensch je erleben sollte. Schon früh starb ihr Vater, Jahre des Elends folgten, erst in Afghanistan, dann im Iran. „Wir hatten jeden Tag Angst, es gab keine Schule, keine Sicherheit, keine Ärzte“, erzählt Fazluddin, und so wagten sie die Flucht. An der Grenze vom Iran zur Türkei verloren sie schließlich auch ihre Mutter und die drei Schwestern. In der Menschenmasse fielen Schüsse, die Brüder rannten um ihr Leben und als sie türkischen Boden unter den Füßen hatten, waren sie allein. „Wir haben zehn Tage gewartet“, sagt Fazluddin und verstummt. Seither ist die Familie verschollen. Irgendwie haben sich die beiden Brüder dann nach Deutschland durchgeschlagen. Sie bezahlten zwielichtige Schlepper, froren auf endlosen Fußmärschen in der Nacht, ernährten sich tagelang nur von Äpfeln und wurden zusammengepfercht auf Lastwägen festgehalten, den Gestank von Erbrochenem in der Nase, die Schreie der Polizisten im Ohr. Im August 2015 erreichten sie schließlich Deutschland. Zwei unbegleitete minderjährige Flüchtlinge, gestrandet in Niederbayern...
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